Paris

Am 17. September 1839 trafen die Wagners voller Hoffnungen in Paris ein. Es fällt nicht leicht, sich aus heutiger Sicht das Paris vorzustellen, das Wagner erlebte, da das Stadtbild durch Baron Georges Eugène Haussmann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend umgestaltet wurde.

Wagner zeigte sich von der Stadt zunächst wenig beeindruckt: "Mit der höchsten Spannung meiner Ankunft in dem ersehnten Paris zugewandt, bedauerte ich zunächst, von dieser Stadt nicht den großartigen Eindruck wiederzugewinnen, den mir zuvor London verschafft hatte. Alles schien mir enger, eingedrückter, und namentlich von den berühmten Boulevards hatte ich mir kolossalere Vorstellungen gemacht. Unerhört war mein Ärger, in einer gräßlich engen Gasse, der rue de la Jussienne [gleichnamige Strasse existiert noch, etwa 300 Meter nördlich von Les Halles], von unsrer riesigen Diligence herab zum ersten Male den Pariser Boden betreten zu müssen." (ML).

Möglicherweise ist Wagners Eindruck durch die folgende missliche Zeit in Paris rückblickend verzerrt. Udo Bermbach beschreibt das Paris zu Wagners Zeit, von Walter Benjamin als die "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" bezeichnet, als "kulturelle Metropole des alten Kontinents" und führt aus: "Paris war eine Stadt im Aufbruch, nach der Juli-Revolution von 1830 die Stadt des ,,juste milieu", des aufstrebenden Finanzbürgertums und einer dekadenten aristokratischen Jugend, der "jeunesse doree". Aber es war auch eine politisch brodelnde Stadt, in der Reichtum und Armut nahe beieinanderlagen, in der die sozialen Gärungen der späten zwanziger Jahre, die Revolution von 1830 und nachfolgende Unruhen und Aufstände in Frankreich einflussreiche utopisch-sozialistische Theoretiker wie Henri de Saint-Simon (1760-1825), Louis-Auguste Blanqui (1805-1881), Jean-Joseph-Louis Blanc (1811-1882) oder auch Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) hervorbrachten, in der es eine linke, radikaldemokratische deutsche Emigrantenszene gab, zu der Heinrich Heine (1797-1856), Ludwig Börne (1786-1837), Arnold Ruge (1802-1880) oder auch Karl Marx (1818-1883) zählten." (Udo Bermbach: "Richard Wagner. Stationen eines unruhigen Lebens" (UB))

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Ein Symbolbild dieser Szene war das 1830 entstandene Gemälde "La Liberté guidant le peuple" ("Die Freiheit führt das Volk") des französischen Malers Eugène Delacroix. Heinrich Heine, der es 1831 im Pariser Salon gesehen hatte, attestierte dem Bild "trotz etwaniger Kunstmängel […] ein[en] große[n] Gedanke[n], der uns wunderbar entgegenweht" (ausgestellt ist das Bild heute im Louvre).

Das Musikleben der Stadt wurde im 19. Jahrhundert durch die Oper dominiert. Die Theaterlandschaft war vielfältig, aber vom Staat streng reglementiert – was das Repertoire, die Größe des Ensembles, die Länge der Aufführungen usw. betraf. Das erste Haus am Platz war die Opéra (bis zum Brand 1873 in der Salle de la rue Le Peletier, seit 1875 im Palais Garnier (9. Arrondissement, 8, rue Scribe)). Hier schlug mit der Uraufführung von Auberts "La Muette de Portici" 1828 die Geburtsstunde der Grand Opéra; ihr erfolgreichster Schöpfer mit Werken wie "Robert le Diable" und später "Le Prophète" der Berliner Komponist Giacomo Meyerbeer.

"Zugleich war Paris eine moderne Kapitale, die den Glanz liebte, die in der Grand Opéra sich selbst allabendlich spektakulär inszenierte und die im festlichen Gestus einer ästhetisierten und sich selbst zelebrierenden Zivilisation das durch die Industrialisierung auch in Frankreich verursachte Elend zu überdecken suchte. Das Zusammenspiel von Politik, gesellschaftlichem Wandel und sich prächtig entfaltender Kultur verlieh dieser Stadt jene überragende Bedeutung in Europa, die jeden Komponisten, der europäischen Rang beanspruchen wollte, zwang, hier seinen Erfolg zu suchen. Weshalb selbst die bedeutendsten italienischen Komponisten wie Gioacchino Rossini (1792-1868), Gaetano Donizetti (1797-1848), Vincenzo Bellini (1801-1835) und Giuseppe Verdi (1813-1901) Opern für Paris schrieben, um hier ihre internationale – was damals hieß: europäische – Anerkennung zu finden." (UB)

Paris
   
Der Grande Salle der Oper während einer Ballettaufführung (Gemälde von 1864)  
   

Wagner verachtete einerseits den Pomp der Grand opéra, andererseits biederte er sich an und hoffte auf wirtschaftlichen und künstlerischen Erfolg. Ganz konnte er sich der Bewunderung für die aufwändige Bühne, auf die er seinen "Rienzi" ausgerichtet hatte, nicht erwehren: "Alle Vornehmen und Reichen, die sich in der ungeheuren Weltstadt der ausgesuchtesten Vergnügungen und Zerstreuungen wegen aufhalten, versammeln sich, von Langeweile und Genusssucht getrieben, in den üppigen Räumen dieses Theaters, um das höchste Maß von Unterhaltung sich vorführen zu lassen. Die erstaunlichste Pracht an Bühnendekorationen und Theaterkostümen entwickelt sich da […] vor dem schwelgenden Auge, das wiederum mit gierigem Blicke dem kokettesten Tanze des üppigsten Ballettkorps der Welt sich zuwendet; ein Orchester von der Stärke und Vorzüglichkeit, wie es sich nirgends wieder findet, begleitet […] die glänzenden Aufzüge ungeheurer Massen von Choristen und Figuranten, zwischen denen endlich die kostspieligsten Sänger […] auftreten […]." (Richard Wagner über die Pariser Grand opéra in: "Ein Theater in Zürich", 1851)

Wagner setzte seine Hoffnungen schließlich auch auf das kleinere Théâtre de la Renaissance, das 1838 unter der Schirmherrschaft von Victor Hugo und Alexandre Dumas dem Älteren eröffnet worden war. (Das Gebäude, genannt Salle Ventadour, in der Rue Neuve-Ventadour, heute Rue Méhul ist erhalten). Hier hoffte er – wiederum vergeblich – das "Liebesverbot" unterzubringen.

In den 1830er Jahren war in Paris neben der etablierten Oper aber auch eine vielfältige Salon- Szene entstanden. Mitglieder der Königsfamilie, die Adelsfamilien im Faubourg Saint- Germain und die neuen Reichen aus dem Bürgertum öffneten ihre Häuser an einem festen Wochentag einem meist festen Kreis von Gästen; oft waren auch Musiker geladen. Hier präsentierten sich junge oder von auswärts gekommene Künstler und fanden mit Glück Protektion. Virtuosen wie Thalberg und Kalkbrenner nutzten die Chance, viele von ihnen konzertierten auch in den Sälen der Klavierbaufirmen wie Érard und Pleyel. Im Salle Pleyel, ab 1839 in der Rue Rochechouart 22 gelegen, traten unter anderen Frédéric Chopin und Franz Liszt auf (Salle Pleyel seit 1927 im Neubau in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré 252). 1828 gründete sich die Société des concerts du Conservatoire (Gebäude an der Rue du Conservatoire, Ecke Rue Sainte-Cécile erhalten), ihre Konzerte waren das wichtigste Forum symphonischer Musik im 19. Jahrhundert.

Wagner selbst konnte auch in diesen Kreisen nicht landen. "Wagners Hoffnungen auf seinen großen Durchbruch zerstoben indessen schnell. Er war unbekannt und, wie er nur allzu bald bemerkte, lediglich einer unter vielen Emigranten. Doch konnte er mit dem ihm eigenen Witz, mit seinem Charme und seiner literarischen wie musikalischen Bildung einige Freunde um sich versammeln. Aber sie alle – einschließlich Heinrich Heines, den er damals kennenlernte und verehrte, dessen Gedicht "Les deux grenadiers" er vertonte und aus dessen "Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" (1834) er schon um 1837/38 die Anregung zu seinem "Fliegenden Holländer" genommen hatte, über den er positiv schrieb und den er später dann aus seinen Erinnerungen verdrängte – waren selbst arm und bedürftig, hatten selbst kaum ihr wirtschaftliches Auskommen. Trotz einer freundlichen Empfehlung des die Pariser Opernszene beherrschenden Meyerbeer gelang es Wagner nicht, in die Zirkel derer, die mitmischten, aufgenommen zu werden." (UB)

Für Wagner begannen vier Jahre materieller Not und herber Enttäuschung. Den dürftigen Lebensunterhalt verdiente er sich durch musikalische Gelegenheitsarbeiten, als Journalist für die "Gazette musicale" und als Korrespondent der "Dresdner Abendzeitung" sowie als Verfasser von Novellen. "Journalistische Gelegenheitsarbeiten und Nebenbei-Kompositionen sowie Klavierbearbeitungen von aktuellen Opern waren nicht nur ungeliebte, sondern geradezu verhasste Tätigkeiten, zumal sie trotz aller Anstrengungen den täglichen Geldbedarf nicht decken konnten. Und so stand die Aussicht, in den Schuldturm zu müssen, ständig drohend vor ihm. Die vier Jahre, die Wagner in Paris zubrachte, waren denn auch die Jahre seines tiefsten Elends, des größten Geldmangels, der schlimmsten persönlichen Erniedrigung und des geringsten Erfolgs, es waren Jahre, die Wagners Abneigung gegen Paris und alles Französische begründeten. Mehr und mehr öffnete er sich unter dem Druck des täglichen Überlebenskampfes den in Paris umlaufenden radikalen, sozialistischen und anarchistischen Gedanken und Theorien, deren Versatzstücke sich durch Lektüre wie Gespräch als seine politischen Grundüberzeugungen herauszubilden begannen und für den Rest seines Lebens weitgehend bestimmend blieben. Eine wichtige Lektion war ihm dafür die Schrift "Qu'est-ce que la Propriete?" ("Was ist Eigentum?" 1840) von Pierre Joseph Proudhon, einem Sozialisten und Anarchisten ganz eigener Prägung, der lehrte, dass nur Arbeit die Grundlage aller Existenz sein dürfe, eine nicht gerechte Entlohnung deshalb Ausbeutung sei und abgeschafft werden müsse. Ziel sollte es nach Proudhon sein, dass "keine Regierung des Menschen durch den Menschen mehr, vermittels der Anhäufung von Gewalt! Keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mehr, vermittels der Anhäufung der Kapitalien" bestehe. Noch wenige Tage vor seinem Tod, im Februar 1883 in Venedig, hat Wagner bemerkt, Proudhon habe mit seiner Auffassung von der verhängnisvollen Rolle des Eigentums recht gehabt, aber noch zu wenig radikal gedacht." (UB)

Paris
   
Rue de la Tonnellerie und Les Halles, Gemälde aus der 1. Hälfte 19. Jhr.  
   

Die finanzielle Misere bringt eine Reihe von Umzügen mit sich: Die Wagners wohnten zunächst in einem billigen Hotel garni in der Nähe der Markthallen, dem später von Émile Zola im gleichnamigen Roman verewigten "Bauch von Paris", in der Rue de la Tonnellerie 3. Das Haus und die Straße existieren heute nicht mehr. Die Umgebung war ärmlich, Wagner fand Trost darin, dass es sich bei seiner ersten Unterkunft in Paris angeblich um Molières Geburtshaus handelte: "Als ich nun von hier aus, zum Einzug in die für mich gemietete Chambre garnie, in eine der engen Seitengassen, welche die rue St. Honore mit dem marche des Innocents verbindet, der rue de la Tonnellerie, gewiesen wurde, kam ich mir wirklich wie degradiert vor. Es bedurfte der tröstlichen Inschrift des Hauses meines Hotel garnis, welche unter einer Büste Molieres die Worte enthielt: Maison ou naquit Moliere, um mich durch gute Vorbedeutung für die empfangenen geringen Eindrücke einigermaßen zu trösten. Klein aber freundlich und wohlanständig ausgestattet, empfing uns das um billigen Preis für uns bereitgehaltene Zimmer des vierten Stockes, aus dessen Fenstern wir bald mit wachsender Bangigkeit auf das ungeheure Marktgewühle in den Straßen herabblickten, von dem ich nicht zu begreifen vermochte, was ich in seiner Nähe zu suchen haben könnte." ("Mein Leben").

Am 15. April 1840 zog Wagner in die 25, Rue du Helder, wo er am 19. November die "Rienzi"-Partitur abschloss. Seine damalige Wohnung, nicht weit von der heutigen Oper entfernt, ist heute nicht mehr aufzufinden. Da Wagner die Miete bald nicht mehr aufbringen konnte, mietete er am 29. April 1841 eine billigere Wohnung "auf dem Lande". Sie lag in Meudon, jetzt an der Südwestperipherie von Paris, etwas außerhalb des Ortskerns, 27, Avenue du Chateau. "Mit dieser Entfernthaltung von allem Pariser künstlerischen wie sozialen Scheinwesen hatte es eine ernste Bewandtnis. Teils meine notvollen Erlebnisse, teils aber auch der in meinem ganzen Bildungsgange innerlichst vorbereitete Ekel vor demjenigen künstlerischen und geselligen Treiben, welches früher mir so überwältigend anziehend vorgekommen war, hatten mit wahrhaft erschreckender Schnelligkeit von jeder Berührung mit ihm zurückgetrieben." ("Mein Leben"). In dem kleinen Häuschen, an dessen Vorderfront eine Wagner-Gedenktafel befestigt ist, wandte Wagner sich dem "Fliegenden Holländer" zu: Vom 18. bis 28. Mai 1841 schrieb er die Urfassung des Textbuches nieder und brachte vom 11. Juli bis 22. August, also in einem Schaffensrausch von knapp sieben Wochen, die gesamte Komposition zu Papier. Am 18. Oktober 1841 war die Partitur des dreiaktigen Werkes beendet.

 Paris
   
  Heutige Ansicht von Wagners Wohnhaus in Meudon

Am 30. Oktober kehrte Wagner nach Paris zurück, quartierte sich im Hinterhaus der 14, Rue Jacob (Gedenktafel) ein – später wohnte dort auch Joseph Proudon, der Autor von "Qu'est-ce que la propriété" – und komponierte die Ouvertüre zum "Holländer". Die Partitur, und damit die ganze Oper, war am 19. November 1841 fertig. Doch die Hoffnung, den erfolgreichen Durchbruch als Komponist in Paris vielleicht noch erzwingen zu können, gab er bald auf. Tief verbittert vom dauernden Misserfolg verließ er mit Minna schließlich am 7. April 1842 Frankreich und ging zurück nach Deutschland, zunächst nach Dresden, denn dort gab es mittlerweile begründete Aussichten auf Aufführungen des "Rienzi" und gleich darauf nach Berlin, wo eine Uraufführung des "Fliegenden Holländers" in Aussicht stand.