Briefes aus Bayreuth über Wagner’s "Parsifal", I-IV
in: Neue Freie Presse (Wien), 1882, Nr. 6433, 6434, 6440, 6441, 15. Juli 1882, 26. Juli 1882, 1. August 1882, 2. August 1882.
Schon aus der Lectüre des Textbuches wird jeder mit Wagner´s genialer Theaterkunst vertraute Leser den Eindruck eines höchst effectvollen Bühnenstückes davontragen. Ein ungemein geschickt gegliedertes Drama mit völlig neuen, blendenden Situationen baut sich kühn vor uns auf. In formeller Beziehung besitzt es glänzende Vorzüge und übertrifft durch übersichtlichen Aufbau, knappere Führung und wirksame Steigerung die Dichtung der Nebelungen-Trilogie. Ueberdies bezeichnet es einen erfreulichen Fortschritt (oder gesunden Rückschritt) in der Diction. Zwar fehlt es dieser auch nicht an gequälten Wortbildungen und Sätzen, an absichtlicher Dunkelheit und bombastischem Aufputz, aber wenigstens sind wir das kindliche Geplapper der Stabreime und Alliterationen los. Gegen die selbstmörderische Diction des "Siegfried" oder "Tristan" gehalten, ist die Sprache des Parcival´s einfach und natürlich - soweit Richard Wagner heute überhaupt noch fähig ist, einfach und natürlich zu sprechen. An der Erzählung Wolfram´s von Eschenbach hat er zwar einiges Wesentliche zum Nachtheil der dramatischen Motivierung geändert - wie wir bald sehen werden - aber auch mit sehr praktischem Blick Alles ausgeschieden, was die Einheit des Planes stören konnte, z.B. die ritterliche Gestalt des Gawan, der als verliebter Abenteurer das Gegenstück des Parcival bilde, sowie die ganze Tafelrundes des Königs Artus, dieses weltliche Gegenstück zu dem geistlichen Bunde der Gralsritter. Durch diese Ausscheidung alles Episodischen, nicht streng Nothwendigen gewann Wagner eine ruhige, stetig fortschreitende Handlung, die in drei wohl aufgebauten Acten gleichsam sechs malerische Tableaux hinstellt, je zwei in jedem Acte. Der geborene Theater-Componist verräth sich in der jeder Scene dieses Textbuches, so scharf und lebendig ist darin Alles angeschaut, vorausgeschaut, genau wie es auf der Scene unfehlbar wirken muss. Und welcher Reichthum an glänzenden scenischen Bildern, an neuen grossen Effecten breitet sich im "Parsifal" aus! Die Wandeldecorationen und die Abendmahlsfeier im ersten Acte, die lebenden Blumen, das Wunder der Lanze und das versinkende Zauberschloß im zweiten, endlich die Leichenfeier Titurel´s und die ganze Schlußscene, es sind lauter überraschende neue Beweise von Wagner´s unerschöpflicher Bühnenphantasie. In dieser fremdartigen und räthselhaft flimmernden Handlung folgt Wunder auf Wunder. Wer, naiv genügsamen Sinnes, den Wagner´schen "Parsifal" als eine höhere Zauberoper auffassen mag und kann, als ein freies Spiel einer im Wunderbaren schwelgenden Phantasie, der hat ihm die beste Seite abgewonnen und sich den ungetrübtesten Genuß errettet. Er wird von diesem Festspielzauber nichts abzuwehren haben, als die falschen Prätensionen, daß alledem ein unergründlich tiefer, heiliger Sinn zu Grunde liege, eine philosophische und religiöse Offenbarung. Leider wird gerade auf diese angeblich tiefe, sittliche Bedeutung, auf das Christlich-Mystische in Wagner´s Dichtung das größte Gewicht gelegt. Und von dieser Seite her haben wir gegen das neue "Bühnenweihfestspiel" und dessen dramatischen Gehalt schwere Bedenken.
Wie die meisten Wagner´schen Werke gerade in ihrem von glänzender Hülle umgebenden dramatischen Kern krank und bedürftig sind, weil die Personen weniger aus freiem Willen als unter dem Zwange einer übersinnlichen Macht handeln, so auch der "Parsifal". Und dieser noch weit mehr, als irgend eines der früheren Wagner´schen Stücke. Es fehlt jedem darin Handelnden, was erst zum dramatischen Charakter macht: die frei Selbstbestimmung in Gutem und Bösem. Gut oder Böse in diesem Sinne, also dramatisch, ist weder der Tugendheld Parsifal, noch sein teuflisches Gegenstück Klingsor, noch endlich die willenlos zwischen Beiden hin- und hergezerrte Kundry - von der erleuchteten Gralsgesellschaft nicht zu reden. Vorerst ist Parcival selbst, seine Schuld und nachfolgende sittliche Läuterung in Wagner´s Fassung unverständlich. Parcival ist der unerfahrene, gutmüthige Jüngling der Tölpeljahre, ein Lieblings-Charakter zahlloser mittelaltriger Romane, den zuerst Wolfram von Eschenbach durch tieferen Auffassung erklärt hat. Im ersten Acte ist er bei Wagner ganz charaktergemäß gehalten; eine Art zahmer Siegfried. Er schießt in jugendlicher Jagdlust einen Schwan, ohne Arges dabei zu denken, antwortet auf jede Frage mit "Das weiß ich nicht" und läßt sich willenlos auf die Gralsburg führen, wo er all die Wunder und räthselhaften Menschen, die ihn umgeben, stumm anstaunt. Das ist vollkommen begreiflich. Ganz bestimmt unbegreiflich ist es dagegen, wie derselbe "reine Thor" sich im zweiten Acte plötzlich als einen furchtbaren Sünder erkennen kann, welcher schwere Schuld abzubüßen hat. Hier rächt sich die Aenderung, die Wagner an der Parcival-Sage und an Wolfram´s Erzählung vorgenommen hat, eine Aenderung, welche die psychologische Motivierung des Helden und die folgerichtige Entwicklung der Handlung geradezu vereitelt. Nach der Sage und der Erzählung Wolfram´s soll der kranke Amfortas einer Offenbarung des Grals zufolge von einem reinen Jüngling erlöst werden, welcher unabsichtlich den Weg zur Gralsburg findet und dort aus freien Stücken an den König die theilnehmende Frage richtet, was ihm fehle. Durch diese bloße Frage soll Amfortas geheilt und der Fragende an seinerstatt König werden. Da man aber dem Knaben Parcival als Lebensregel eingeschärft hatte, nicht viel zu fragen, so unterläßt er die Frage auch dort, wie sie sich ziemte und von ihm erwartet werden durfte: beim Anblick des sichen Amfortas. Parcival verläßt die Gralsburg, ohne sich einer Schuld bewußt zu sein. Erst als die Gralsbotin Kundry die gräßlichsten Verwünschungen über ihn ausstößt und ihn an Artus´ Tafelrunde als einen Verräther anklagt, weil der die Erlösung des Amfortas, die in seiner Hand gelegen, durch sein Schweigen vereitelt habe, weiß Parcival, was er verschuldete, und hadert mit Gott, der Solches zulassen konnte. Mit sich zerfallen, verzweifelt, gelangt er endlich zu einem alten Einsiedler, Trevrizent, der sein Lehrer und Erlöser wird, indem er ihn über den Gral aufklärt und über sein eigene Innere. Reuig und mit Gott versöhnt, findet Parcival nach langen Irrfahrten und schweren Prüfungen wieder den Weg zum Gral und tritt vor Amfortas mit der Frage: "Oheim, was fehlt dir?" Der kranke König erhebt sich geheilt und überträgt seine Krone auf Parcival. So erzählt Wolfram den Hergang: die Lösung ist poetisch und verständlich. Indem aber Wagner das Motiv der Frage ganz wegläßt, wird uns unverständlich, was denn Parcival verschuldet hat und was er eigentlich hätte thun sollen, um die Heilung des Königs, dem Orakel entsprechend, zu bewerkstelligen. Bei Wolfram lautet der Ausspruch des Grals ganz klar; bei Wagner ist er wirklich dunkler, als wir es selbst von Orakeln gewohnt sind: "Durch Mitleid wissend, der reine Thor: - Harre sein, den ich erkor." Wir bekennen aufrichtig, das nicht zu verstehen. Vergeblich fragen wir und müssen immer wieder fragen, wie es denn kommt, daß Wagner´s "Parsifal", der von Niemandem mit einem Worte über sein Versäumnis aufgeklärt und sich keiner Schuld bewußt ist, plötzlich, und zwar während der Liebesscene im zweiten Acte, in Reue und Zerknirschung umschlägt, aus einem reinen Thoren ein reiner Heiliger wird. Ohne einen Gedanken an den kranken König, ohne einen Schatten von Schuldbewußtsein reitet Parsifal im zweiten Acte "kindisch jauchzend" auf Abendteuer und gelangt in Klingsor´s Zauberschloß mitten unter die verführerischen Mädchen. Kundry, zur reizenden Fee umgewandelt, gibt ihm "der Liebe ersten Kuß", und Parsifal springt mit dem Ausrufe: "Amfortas! die Wunde, die Wunde" auf und stürzt verzweifelt auf die Knie:
"Erlöser, Heiland, Herr der Huld!
Wie büß ich Sünder ohne Schuld?!"
Das begreife wer kann. Kundry selbst scheint es nicht zu begreifen, da sie den Parsifal fragt: "So war es mein Kuß, de welt-hellsichtig dich machte?" Wie im dritten Acte die dogmatischen, so häufen sich im zweiten die psychologischen Wunder. Unter letzteren ein sehr häßliches: daß in Parsifal das Bild seiner sterbenden Mutter benützt wird, ihn in sinnliche Ekstase zu hetzen. Diese Vermengung des heiligsten Gefühls mit dem unheiligsten wirkt um so abstoßender, als sie hier vollständig unnöthig und unnatürlich ist. Nach dem entscheidenden Kuß macht sich der welt-hellsichtig Gewordene von Kundry los und auf den Weg zu Amfortas, ausgerüstet mit der heiligen Lanze, die von ihm nicht einmal erkämpft, sondern ihm durch ein Wunder als gebratene Taube in die Hand geflogen ist. Dieses fernliegende, alte Märchenmotiv von dem Speer, welcher allein die Wunden, die er geschlagen, wieder heilt - bei Wolfram kommt es nicht vor - hat Wagner in seinen "Parsifal" eingeführt, wahrscheinlich um ein Miracel mehr und einen glänzenden Actschluß zu gewinnen. Wagner´s Ausleger, die oft noch tiefsinniger und unverständlicher sind, als er selbst, verehren gerade in dieser Lanze "die Heilsthat des wissend gewordenen Mitleids". Nach unserer Empfindung sticht Wagner mit diesem Wunderspeer seinem eigenen Drama ins Herz. Nicht eben wunderbar, aber sehr wunderlich fällt es auf, daß wir von Parsifal, dem Helden des Stückes, keine einzige geistige oder leibliche Heldenthat zu sehen bekommen, höchstens die rein negative der Standhaftigkeit gegen sinnliche Reizung. Mit wachsendem Erstaunen beobachten wir, wie sich im Verlauf des Stückes ein größerer Heiligenschein um das Haupt des reinen Thoren wölbt, bis dieser unter Wagner´s Händen förmlich zum Erlöser der Menschheit emporwächst. In der Scene, wo Kundry als büßende Magdalena ihm die Füße wäscht und mit ihren Haaren abtrocknet, schlüpft Parsifal leibhaftig in die Gestalt Christi hinein. Zum Schlusse senkt sich sogar ein weiße Taube als Verkörperung des heiligen Geistes auf sein Haupt herab, während unsichtbare Stimmen "Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser!" singen. Was der Wagner´sche Parsifal gethan hat, um diese verschämte Identificirung mit dem Heiland zu rechtfertigen, müssen uns Andere sagen, und Andere mögen auch entscheiden, ob durch solche Scenen wirklich der Geist echten Christenthums gefördert werde. Wir fragen uns nur, wenn wir Momente aus dem Leben Jesu also leicht maskirt im "Parsifal" antreffen, warum Wagner es nicht vorzog, Jesum selbst in einem "Bühnenweihfestspiel" zu verherrlichen? Wir meinen dies im vollkommenen Ernste. Etwas von der Einrichtung des Oberammergauer Passionsspiels - dessen Ausschließlichkeit und seltene periodische Wiederkehr - scheint ohnehin dem Begründer der Bayreuther Festspiele vorgeschwebt zu haben. Die Person und das Leben des Heilands sind ja im höchsten Sinne dramatisch, und es ist nicht einzusehen, warum ein berufener Dichter nicht mit demselben frommen Muthe an ein solches Thema gehen sollte, wie zum Beispiel Munkacsy an eine moderne und realistisch gehaltene Darstellung des historischen Christus. Friedrich Hebbel trug sich lange mit dem Plane eines Christus-Dramas, "der gewaltigsten aller Tragödien", starb jedoch vor dem ersten Federzuge. An künstlerischem Muthe steht Wagner gewinn nicht hinter Hebbel zurück; auch darf er mehr wagen, als Hebbel wagen durfte oder irgend Jemand heute wagen darf. "Das letzte Abendmahl Christi mit seinen Jüngern", nach dem Gemälde Leonardo da Vinci´s gruppirt, böte sicherlich ein tausendmal ergreifenderes, wenn auch weniger prunkvolles Bild, als das Liebesmal der Gralsritter im "Parsifal", das doch nur eine durchsichtige Maskerade jenes Letzten Abendmahl ist. Wahrhaft christlichen Gemüthern dürfte das Urbild wahrscheinlich weniger Anstoss erregen, als die ernsthafte Parodie.
So wie Parsifal nur von übersinnlichen Mächten regirt, und unversehens vom guten dummen Jungen zum "Erlöser des Erlösers" begnadet wird, so ist auch Kundry ein willenloses Werkzeug bald in des Grals, bald in Klingsor´s Hand. Bei Wolfram von Eschenbach sind die wilde Gralsbotin und die schöne Verführerin des Parcival ("Orgeluse") ganz verschiedene Personen; Wagner verschmilzt beide Gegensätze in die eine Figur der Kundry. Neu und interessant mag man diese Figur nennen, menschlich begreiflich ist sie nicht, und was Alles mit diesem hysterischen Unwesen bei Wagner gemeint ist, dürfte ohne gelehrten Commentar kaum Jemand errathen. Eine verwandte Gestalt ist Klingsor, ein sonderbarer gefallener Engel, der, als Selbstverstümmler vom Gral zurückgestossen, zum bösen Zauberer ward. Auch er ist ein blutloses Abstractum, das uns wie Kundry durch mancherlei Widersprüche und Räthsel in seinen Erzählungen verwirrt. Der sieche Amfortas bleibt eine rein leidende Gestalt, von deren "sehrenden Schmerzen", blutenden Wunden, Bädern, und Medicamenten so viel gesprochen wird, dass wir mehr ein klinisch-pathologisches als ein tragisches Mitleid mit ihr empfinden. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto willkürlicher, mystischer, symbolischer wird sie. Die menschliche Natur in uns verliert schließlich jede Fühlung mit diesen in lauter heiligen Mirakeln kreisenden Begebenheiten und den abnormen Ueber- und Unmenschen, die sich vor uns wie an einem göttlichen Marionettendrath bewegen. An welchem von ihnen kann man mit warmer, echt menschliche Theilnahme hängen? Lohengrin ist doch nur in der Schlußscene der übersinnliche Ritter, der seraphische Soldat, der blindlings seinen Kriegsherrn, dem Gral, folgen und Elsa verlassen muß - das Stück hindurch handelt und fühlt er menschlich, und die ihn umgeben gleichfalls. Im "Parsifal" hingegen ist der heilige Gral Alles, bedeutet Alles, entscheidet Alles. Was ist uns der Gral? Eine legendenhafte Curiosität, dem Bewußtsein des Volkes wie der Gebildeten wildfremd, ein längst vergessenes Requisit phantastischen Aberglaubens. Die hysterische Exaltation, welche in Wagner´s "Parsifal" unablässig die heilige Schüssel und die heilige Lanze und das heilige Blut anschwärmt, findet heute keinen Widerhall in deutschen Geistern, deutschen Herzen, und wird sie niemals finden. Selbst Calderon, der für die katholischen Spanier des 16. Jahrhunderts dichtete, hat sich kaum so hoch ins Mysthisch-Religiöse verstiegen; von dem romantisch-katholischen Schwärmgeist Zacharias Werner gar nicht zu reden. Wenn Wagner´s officieller Interpret, Herr v. Wolzogen, behauptet, Wagner habe aus dem Epos Wolfram´s von Eschenbach "den allgemein menschlichen Grundgedanken genommen und vertieft", so erscheint uns eher das Gegentheil richtig. Das Mystische, Religiös-Symbolische hat Wagner daraus aufgefangen, im Vergrößerungsspiegel aufgefangen, hingegen gerade das echt Menschliche dieser lebensvollen, reichbewegten Dichtung unterdrückt. Wie schön und rührend ist bei Wolfram Parcival´s steter Gedanke an seine Frau! Diese treue Liebe und das unausgesetzte Streben nach häuslichem Familienglück vermag in ihm den Gral nicht zu unterdrücken. Sobald Parcival die früher versäumte mitleidige Frage an Amfortas gethan und das Königreich angetreten hat, vereinigt er sich mit seiner Frau, der holden Conduiramur, und seinen beiden Söhnen Lohengrin und Kardeiz. Von alledem keine Spur bei Wagner, dessen christliches Ideal offenbar das Cölibat bedingt. Es wird uns als Wagner´s größte That gepriesen, daß er "den Gral, das höchste christlich-religiöse Ideal", verherrlicht habe. Aber wem unter uns ist denn der Gral ein religiöses Ideal? Wem ist er es jemals gewesen? Das ganze Christentum unserer Zeit ist ein ganz anderes als das wundersüchtige der heiligen Gralsritter, und vielleicht kein schlechteres. Es ist über Shakespeare treffend gesagt worden, daß er nirgends religiös und doch überall religiös sei. Die christliche Ekstase im "Parsifal" bildet den geraden Gegensatz zu Shakespeare´s dichterischer Gesundheit und mahnt nicht selten an die gereimten Andachtskrämpfe der deutschen Pietisten.
Ist das wirklich Wagner, wird man fragen, derselbe Richard Wagner, der in seinem berühmten Buche "Die Kunst und die Revolution" (1850) gegen die "beklagenswerthe Einwirkung des Christenthums" so energisch kämpfte? Damals also faßte Wagner das Christenthum als einen feindseligen Gegensatz gegen die echte Kunst und gegen die einzig wünschenswerthe natürliche Entwicklung der Menschen auf - heute scheint er, ins andere Extrem umschlagend, nur in den christlichen Mysterien das Heil der Kunst zu finden. Wenn Wagner an der Schwelle seines siebzigsten Jahres für seine Person fromm geworden, so wäre dies nicht das erste Beispiel solcher Wandlung und ginge weiter keinen Menschen an. "Religiosität ist die Weingährung des sich bildenden und die faule Gährung des sich zersetzenden Geistes", sagte Grillparzer. Fast ahnen wir einen sich zersetzenden Geist, wenn ein großer Künstler in Gral´s Reliquien und Heiligen-Mirakeln die Mission der deutschen Kunst erblickt und damit die "Regeneration des Menschengeschlechtes" bewerkstelligen will. Wagner´s eigene Aeußerungen, noch mehr die seiner Mitarbeiter und Jünger sprechen für solche Generalisirung seines neuesten Ideals, wie denn Wagner´s gesamte Theorie nur seinem eigenartigen Talente Entsprechende zum allgemeinen und ausschließlichen Kunstgesetze erhebt. Trotz der Anstrengung von hundert Wagner-Vereinen in der christlichen Mystik die rettende Zukunft der Musik zu begrüßen, wird die Gegenwart wol kaum nöthig haben, Goethe´s Feldzug gegen die "neudeutsche religiös-patriotische Kunst" ernstlich wieder aufzunehmen. Wir wollen - wie Scherer mit Bezug auf Wagner´s Nibelungen ausrief - im Sinne Goethe´s weiterleben und weiterwirken, "unbekümmert um den barbarischen Unsinn halbverstandener nordische Mythologie, die man uns als neues Evangelium aufdrängen will". Auch das allerneueste Kunst-Evangelium, das der christlichen Mystik, dürfte im "Parsifal" trotz der glänzendsten Verkörperung isoliert bleiben. Sie würde, gleich der Wiederbelebung jener abgestorbenen Götterwelt, nur geistige Rückbildung bewirken und die Kunst zur Verarmung führen, anstatt zum Reichthum.
Wir wissen recht gut, daß jeder Wagner´schen Oper Unrecht geschieht, wenn man ihr Textbuch abgetrennt von der Musik und der ganzen scenischen Darstellung beurtheilt. Indem wir dies dennoch versuchten, haben wir uns nur den eigenen Ansprüchen Wagner´s gefügt, welcher seinen Textbüchern Werth und Bedeutung selbstständiger Dichtungen vindicirt und darum auch letztere Jahr und Tag vor Erscheinen der Partitur als unabhängige Dramen in Buchform veröffentlicht. Diesem Anspruch Wagner´s mußte für die "Parsifal"-Dichtung um so sicherer genügt werden, als diese in dem großen Wagner´schen Lager mit einem Taumel von Bewunderung begrüßt worden ist. In allen Opern Wagner´s hat die Musik die Fehler seiner Dichtungen zu mildern und deren Vorzüge hoch zu steigern gewußt. Diese Erfahrung wird sich ohne Zweifel auch im "Parsifal" wiederholen, dessen erste Aufführung wir mit Spannung entgegengehen.
Die erste Aufführung des "Parsifal" hat gestern (25. Juli) mit vollem ungetrübten Erfolge stattgefunden. Indem ich den Eindruck dieser Vorstellung als einen rein individuellen unseren Lesern zu schildern versuche, geschieht dies mit allen den bescheidenen Vorbehalten, die sich gegenüber einem neuen umfangreichen Kunstwerke eigentlich von selbst verstehen. "Parsifal" verkündet in der großen Anlage wie in dem kleinsten Detail die Eigenart seines Schöpfers. Wie jener babylonische Herrscher auf jedem einzelnen Ziegelsteine mächtiger Neubauten seinen Namenszug einbrennen ließ, zum Zeugniß nach Jahrtausenden, so hat der Autor des "Parsifal" jedem Tacte gleichsam ein unsichtbares R. W. eingeprägt. Mit Sicherheit werden späteste Forscher jedes ausgerissene Blatt dieser Partitur erkennen. Abwechselnd günstig und ungünstig, bald stark und erhebend, bald gleichgültig und niederdrückend berühren uns die einzelnen Theile dieses ausgedehnten Werkes. Immer jedoch fühlen wir uns unter der Gewalt einer mächtigen Persönlichkeit von eigenster, unerschütterlich fester Ueberzeugung. Die Energie eines starken, niemals zweifelnden Willens wirkt in der Kunst wie im Leben jederzeit imponirend. Sie erzwingt sich Achtung, Bewunderung - nicht immer Sympathie. Diese Hauptzüge haben die Bayreuther Festspiele von 1882 mit den ersten von 1876 gemein. Gegen jenen Nibelungen-Cyklus erprobt jetzt "Parsifal" den Vortheil der geschlossenen Form und dadurch des einheitlichen Eindruckes. Schon der Umstand, daß Wagner hier die dramatische falsche, unselige Form der Trilogie oder Tetralogie ausgegeben hat, welche den Kunstgenuß von 1876 zu einer qualvollen Anstrengung machte, sichert dem "Parsifal", dessen sich die Bühnen eines Tages ohne Zweifel bemächtigen werden, eine reinere Wirkung.
Die Methode der musikalischen Composition ist hier wie dort consequent dieselbe. Es ist der von der "unendlichen Orchester-Melodie" bestimmte Styl, wie ihn Wagner zuerst im "Tristan" streng durchgeführt, dann in den "Meistersingern" durch blühende Oasen melodischen und mehrstimmigen Gesanges belebt hat, um ihn wieder in den "Nibelungen" zu imposant starrer Gesetzmäßigkeit zu steigern. Diese Methode, durch welche die Oper zum wirklichen Drama erhoben werden soll, bringt es bekanntlich mich sich, daß die bisherigen Formen der Arie, des Duetts, Terzetts, des Chores, überhaupt die organische Form damit die Selbstständigkeit des musikalischen Gedankens beseitigt werden und dem unaufhörlich bewegten Orchester die Hauptrolle neben den mehr declamirenden als singenden Stimmen zufällt. Das Material, aus welchem das Orchester sein ewig wechselndes, endloses Gewebe spinnt, sind die sogenannten "Leitmotive". Auch im "Parsifal" hat jede handelnde Person ihr bestimmtes musikalisches Leitmotiv oder vielmehr nach ihren verschiedenen dramatischen Beziehungen deren mehrere. Der "Leitfaden" von Wolzogen zählt 26 solche Motive auf, ein anderer von Heinz 66, hingegen ein dritter von Eichberg (es gibt schon eine kleine Bibliothek solcher Bayreuther Handbüchlein) nur 23. Diese 23 sind aber, wie der Verfasser betont, "geradezu zum Auswendiglernen bestimmt". Diese ausdrückliche Weise ist charakteristisch. Die Leitmotive "müssen" von dem Zuhörer, wenn er den Parcival verstehen und genießen will, zuvor auswendig gelernt werden; dann obliegt ihm eine rastlos vergleichende Verstandes- und Gedächtnißarbeit während des Hörens. Wir haben aus der Brandung eines wogenden Orchesters jederzeit herauszuhören, wann "das eigentlich Gralsmotiv", wann das "Liebesmalmotiv", das "Glaubensmotiv", das "Verheißungsmotiv" u.s.w. erklingt. Das sind lauter den Gral betreffende Leitmotive. Daneben gibt es natürlich mehrere Motive der Kundry ("Kundry´s wildes Reitmotiv", "Kundry´s Liebesmotiv", "Kundry´s Lachmotiv") ebenso des Parsifal, des Klinsor und der Uebrigen. Diese immer neu combinirten, neu variirten, neu instrumentirten Leitmotive geben im Orchester ein fortlaufendes symphonisches Gewebe. Wer es nicht von intimen Freunden Wagner´s wüßte, müßte es von selber errathen, daß dieser in der Regel zuvor die Orchester-Begleitung, dann erst darüber die Gesangspartie skizzirt. Das zusammenhängende und zusammengehaltene Ganz ist die symphonische selbstständige Orchesterpartie; was dazu gesungen wird, sind Fragmente, deren Sinn in den Worten liegt, nicht in den Tönen. Mit wenigen, stark herausleuchtenden Ausnahmen melodiösen, durch sich selbst verständlichen Gesangs bietet also auch "Parsifal" das Schauspiel eines immer anspielungsreichen, in lauter "Bedeutung" arbeitenden Orchesterspiels, in welchem die Schollen eines aufgeregten Sprechgesangs schwimmen. Ein zweiter wesentlicher Charakterzug der späteren Wagner´schen Manier ist die grenzenlose Freiheit der Modulation. Auch im "Parsifal" gibt es eigentlich keine Modulationen mehr, sondern nur ein Moduliren, ein unausgesetztes wogendes Moduliren, bei welchem der Hörer jede Vorstellung einer bestimmten Tonalität verliert. Wir fühlen uns wie auf hoher See, ohne festen Boden unter den Füßen. Wagner hat sich in ein ihm ganz eigens chromatisch-enharmonisches Denken vernistet, das fortwährend die entlegensten Tonarten in- und auseinanderschlingt. Wie die "Nibelungen", so bringt allerdings auch "Parsifal" einzelne Sätze von ruhigerer Tonalität, es sind erfreuliche, mitunter entzückende Ausnahmen, aber sind Ausnahmen und gehen meist flüchtig vorüber. Jene tyrannische Herrschaft der Leitmotive im Orchester, und diese in schrankenlos emancipirter Modulation, empfinden wir als schwere Nachtheile in der Opernmusik; Wagner und seine Anhänger preisen sie als den höchsten Fortschritt. Das sind schroffe principielle Meinungsverschiedenheiten, über welche zu streiten heute nicht mehr möglich ist.
Das Finale gehört unstreitig zu jenen blendenden musikalisch-scenischen Leitungen, in welchen Wagner keinen Nebenbuhler hat. Es mag meine Schuld sein, die Schuld einer zu hoch gesteigerten Erwartung, wenn ich die Wirkung trotzdem nicht so mächtig und glänzend fand, wie ich sie mir aus Textbuch und Partitur vorgestellt hatte. Ich erwartete insbesondere einen außerordentlichen blendenden Glanz des Orchesters und einen geradezu überwältigenden Eindruck der Chöre, eine bis zum Schlusse sich unausgesetzt steigernde Klangwirkung. In der Regel findet der Leser Wagner´scher Partituren seine Erwartungen weit übertroffen in der wirklichen Aufführung; diesmal traf, wenigstens für meine Empfindung, das Gehoffte nicht ganz ein. Die auffallend langsamen Tempi in diesem sehr langen ersten Acte mögen dazu beigetragen haben, sowie die bekannte Bauart des tief versenkten und verdeckten Bayreuther Orchester, das eine höchste, glänzendste Klangwirkung nicht zuläßt. Immerhin ist nach der declamatorisch gesungenen und orchestral verschlungenen ersten Hälfte dieses Actes die zweite eine musikalische Wohlthat, da sie rhythmisch geregelten, melodiös selbstständigen Gesang, überdies mehrstimmigen Gesang bringt. Nur Eines verkümmert diese Wohlthat: daß jede Scene so unendlich lang ausgesponnen ist. Dieses nicht Endenkönnen langer, in der Handlung nicht stillstehender Scenen beeinträchtigt den "Parsifal" nicht weniger als die "Nibelungen". Es ist Alles maßlos, Alles zu lang drin, vom Größten bis zum Kleinsten, von dem feierlichen Liebesmal bis zu dem unmöglichen Kusse der Kundry.
Es folgt die große Scene, in welcher Kundry dem Parsifal zuerst von seiner Mutter erzählt, dann immer glühender und begehrlicher ihm auf den Leib rückt. Der Anfang von Kundry´s Erzählung: "Ich sah das Kind" - gottlob diesmal nicht "das zullende Kind"! - läßt sich schlicht und sangbar an, eine der verheißenden Melodienknospen, wie sie bei Wagner nicht selten hervorlugen, um nur zu rasch vor ihrem Aufblühen wieder abgebrochen zu werden. Von da an versteigt sich die Composition immer höher in forcirtes Pathos. Jeden Augenblick droht dem Componisten der Athem auszugehen. Wer hier seine Leitmotive nicht auswendig weiß, bleibt rathlos vor dem brausenden Gischt des Orchesters, und wer sie weiß, wird darum nicht viel glücklicher. Denn es ist eine schwere Zumuthung an uns, all die unmotivirten furchtbaren Stimmungswechsel mitzumachen, in welchen nun Parsifal und Kundry die ganze lange Scene hindurch geschleudert werden: aus langweiligen Erzählungen in sinnliche Gluth, aus dieser in religiöse Ekstase, und immer auf der Flucht vor Allem, was musikalisch schön und maßvoll ist. In Wagner´s Musik haben sich gerade für solche Scenen äußersten leidenschaftlichen Ausdruckes gewisse stehende Phrasen herausgebildet, die heute fast zur Manier erstarrt sind. Ich weiß, daß die geschworenen Wagnerianer diese stehenden Phrasen, diese Manier für Naturlaute der tiefsten Empfindung halten und die große Scene zwischen Kundry und Parsifal als das Höchste preisen werden, was der Meister je geschaffen. Es kommt eben auf den Standpunkt an. Mir erscheint die ganze Scene im tiefsten Grunde unwahr, die Musik äußerlich glühend, innerlich kalt, gebackenes Eis. Schon beginnen wir in diesem Tumulte unfruchtbarer Leidenschaft müde und zerstreut zu werden, da ergreift Parsifal´s Hand die heilige Lanze und wir sind mit diesem handgreiflichen Schlußeffect gerettet. Das Zauberschloß sinkt unter der Gewalt einer bewunderungswürdigen Erdbebenmusik krachend zu Boden und der Vorhang schließt sich über den Ereignissen auf Klingsor´s Gebiet.
Der dritte Act beginnt mit einer Art religiöser Idylle, von Wagner mit großer Liebe, aber auch mit äußerster Weitschweifigkeit ausgeführt. Es ist eine poetisches, friedlich anmuthendes Bild, wie Parsifal im schneeweißen Christusgewande an der heiligen Quelle sitzt und die Schönheit der "blumigen Au" preist, während ihm Kundry die Füße wäscht und der alte Gurnemanz sein lockiges Haupt salbt. Das Ganze gehört zu jenen Wagner ganz eigenthümlichen Scenen, die uns als stimmungsvolles Bild fesseln. Ein gemaltes Bild vermögen wir aber länger zu betrachten, als das schönste stillstehende Tableau im Drama, wo die Handlung doch bald nach Bewegung und Entwicklung drängt. An der plastischen Ruhe dieser Scenen im dritten Acte scheint sich der Autor gar nicht erstättigen zu können; die Musik streckt sich weithin haideartig in stimmungsvolle Monotonie. Als eine duftige Blüthe überrascht uns darin Parsifal´s lyrischer Excurs über die Schönheit der Blumen-Au; leider verkümmert auch sie sehr bald in dem Flugsande der instrumentalen "Unendlichkeit".
Und Wagner´s schöpferische Kraft? Für einen Mann von Wagner´s Alter und von - Wagner´s System erscheint sie mir im "Parsifal" noch immer erstaunlich. Wer Musikstücke von dem bestickenden melodiösen Reiz des "Blumenspiels" und von der Energie der Schlußscene im Parsifal zu schaffen vermag, der verfügt noch über eine Kraft, um die ihn unsere Jüngsten beneiden dürften. Allerdings besteht der umfangreiche "Parsifal" nicht aus lauter solchen Lichtblicken. Es wäre "rein thöricht" zu behaupten, daß Wagner´s Phantasie und namentlich seine specifisch musikalische Erfindung unversehrt die Frische und Leichtigkeit von ehedem sich bewahrt haben. Eine gewissen Sterilität und Nüchternheit bei zunehmender Weitschweifigkeit ist im Parsifal nicht zu verkennen. Stehen nicht die Verführungsversuche der unwiderstehlichen Kundry fast steif und kühl neben der ähnlichen Scene im "Tannhäuser"? Und das Vorspiel zu "Parsifal", ist es nicht von gleicher Stimmung, von gleicher Absicht dictirt, wie die Einleitung zu "Lohengrin"? Es ist derselbe Baum, aber einmal in voller Blüthe, dann herbstlich entblättert und fröstelnd. Man vergleiche ferner den Gesang des Gurnemanz vom "Charfreitagszauber" (dritter Act) mit der ihm melodisch nahe verwandten Schilderung des Johannestages in den "Meistersingern". Pogner´s stimmungsvoller Gesang scheint Wagner bei der Composition des "Charfreitagszaubers" geradezu vorgeschwebt zu haben - aber wo blieb die innere Kraft, die singende Seele des Vorbildes? Auch die gewaltigsten Nummern aus den "Nibelungen" finden, für sich betrachtet, schwerlich ganz ebenbürtige Seitenstücke im "Parsifal", den ganz isolirt stehenden Blumenmädchen-Chor immer ausgenommen. Freilich, wenn man bedenkt, daß jene Glanzstücke im "Nibelungen-Ring" - durch wahre musikalische Wüsten von einander getrennt - sich auf volle vier Abende vertheilen, so mag das Zünglein der Wage vielleicht wieder zwischen beiden Schalen innestehen. Im Vergleiche mit den "Nibelungen" kommt dem "Parsifal" auch ein wirksameres Textbuch zu statten. Als "dramatische Dichtung" völlig unhaltbar, ist "Parsifal" doch ein besserer Operntext als das viergliedrige Buch zum Nibelungen-Ring. Es ist mit Einem Worte musikalischer: dem ganzen Stoffe nach, sodann in den entscheidenden Situationen, endlich in der Diction. Sehen wir den "Parsifal" als eine Fest- und Zauberoper an, ignoriren, wie wir es ja sonst häufig thun müssen, ihre logischen und psychologischen Unmöglichkeiten und falschen, religiös-philosophischen Prätensionen, so werden wir Momente bedeutendster künstlerischer Anregung, blendendster Wirkung und aufrichtiger Bewunderung darin erleben.
Die Frage, ob denn "Parsifal" wirklich allen Bühnen definitiv vorenthalten und auf ein zeitweiliges (für die Dauer doch sehr zweifelhaftes) Erwachen in Bayreuth beschränkt bleiben solle, drängt sich natürlich auf alle Lippen. Wagner selbst hat bekanntlich in einem offenen Brief aus Palermo (April 1882) den "durchaus unterschiedlichen Charakter dieses Werkes" nachdrücklich betont und will jede Aufführung desselben außerhalb Bayreuths schon dadurch unmöglich gemacht haben, daß er "mit dieser Dichtung eine unsere Operntheater mit Recht abgewendet bleiben sollende Sphäre beschritt". Trotzdem will uns diese "Unmöglichkeit" schlechterdings nicht einleuchten. Auf das Befremdende, selbst Unschickliche, das in den kirchlichen Scenen des "Parsifal" liegt, wurde allerdings in unserem Berichte selbst hingewiesen. Aber wann und wo hat Unschickliches je ein Hinderniß gebildet für die Aufführung Wagner´scher Opern? Ich finde die brünstige Liebescene des sich vermählenden Geschwisterpaares Sigmund und Sieglinde in der "Walküre" tausendmal anstößiger, als die religiösen Bilder im "Parsifal", welche für strenggläubige Christen ärgerlich, doch keinesfalls für das menschliche Gemüth empörend sind, wie die genannte, mit Schopenhauer´s "Infam!" gestempelte Scene. Ich muß hier gleich bemerken, daß die kirchlichen Scenen im "Parsifal" mir bei der Aufführung beiweitem nicht den anstößigen Eindruck gemacht haben, wie ich und Andere ihn aus der Lectüre des Textbuches vermuthet hatten. Es sind religiöse Handlungen, die uns vorgeführt werden, aber bei aller ernster Würde durchaus nicht im Styl der Kirche, sondern vollkommen im Styl der Oper. "Parsifal" ist eine Oper, mag man ihn immerhin Bühnenfestspiel oder Bühnenweihefestspiel taufen. Nicht einmal eine "geistliche Oper" im Sinne Anton Rubinstein´s kann er heißen, denn in einer solchen wäre der üppig-weltliche zweite Act des Parsifal einfach unmöglich. Wie in diesem zweiten Acte aus dem frommen Mönchsgewande der alte prächtige Theaterteufel herausspringt, der Wagner des Venusberges, das ist übrigens gar zu reizend.
Warum sollte Wagner´s "Parsifal" auf keinem Theater erscheinen dürfen? Ist denn das Bayreuther "Festspielhaus", für welches Wagner den "Parsifal" geschrieben, kein Theater? Ist es etwa eine Kirche oder ein Concertsaal? Es ist ein Theater, in welchem "Parsifal" wie jede andere Oper von Theatersängern in Costüm und mit dem denkbar glänzendsten Opern-Apparat gespielt, und zwar vor einem fortwährend wechselnden, zahlenden Publikum gespielt wird. Warum sollte eine Aufführung des "Parsifal" überall das religiöse Gefühl beleidigen, nur gerade in Bayreuth nicht? An den ersten Vorsatze Wagner´s, den "Parsifal" in Europa zu verbieten, zweifeln wir keinen Augenblicke; er mag äußere Gründe haben, ihn für Bayreuth zu reserviren. Aber aus inneren, dem Werke entnommenen Gründen vermögen wir die sittliche Unmöglichkeit einer Aufführung des "Parsifal´s" auf anderen Bühnen nicht zu begreifen. Wir würden das Verbot auch aufrichtig bedauern. So wie es schade gewesen wäre um die enormen Kosten und Anstrengungen des "Nibelungenrings", die auch "nur für Bayreuth" aufgewendet sein sollten, so wäre es auch schade und noch mehr schade um "Parsifal". Er ist leichter ausführbar als die Tetralogie, geschlossener, wirksamer; seine Musik ist (mit einziger Ausnahme der Kundry-Scenen) einfacher, ruhiger, edler. Zweckmäßige Kürzungen als unumgänglich vorausgesetzt, dürfte "Parsifal" für die Bühnen sogar werthvoller und erfolgreicher werden. Seit einem Vierteiljahrhundert sind wir in Deutschland bettelarm an lebensfähigen Opern und scheinen von Jahr zu Jahr in dieser Verarmung fortzuschreiten - man braucht keine "Wagnerianer" zu sein, um den drohenden Verlust des "Parsifal" aufrichtig zu beklagen. Das wissen wir sehr gut, daß Wagner der größte lebende Opern-Componist ist und in Deutschland der einzige, von dem in historischem Sinne ernsthaft die Rede sein kann. Er ist der einzige deutsche Componist seit Weber und Meyerbeer, den man aus der Geschichte dramatischen Musik nicht wegdenken kann. Selbst Mendelssohn und Schuhmann, von Rubinstein und den Neueren nicht zu reden, können wir uns wegdenken, ohne daß in der Geschichte der Oper eine Lücke entstünde. Zwischen diesem Zugeständnisse und der ekelhaften Vergötterung, die mit Wagner getrieben und von ihm patronisirt wird, liegt freilich eine unendliche Kluft.
Nach Allem, was hier laut oder halblaut geäußert wird, scheint eine Parsifal-Wiederholung im nächsten Jahre nichts weniger als sicher zu sein. Was dann? Und wenn selbst für Wagner´s Lebenszeit der "Parsifal" den Bühnen wirklich vorenthalten bliebe - was dann? Fehlt einmal Wagner´s Persönlichkeit, der magnetische Blick und die starke Hand, die Alles, Künstler und Zuhörer, in das kleine Bayreuth heranzieht und hier festhält, so wir Niemand, Niemand nach ihm ein Gleiches zu vollbringen im Stande sein. Mit Wagner wird voraussichtlich das Bayreuther Festspielwesen erlöschen, aber gewiß nicht sein "Parsifal". Die großen Bühnen werden diese interessante fromme Oper ohne viel religiöse Scrupel geben, und das Publikum von Wien, München und Berlin wird sie, wie das hiesige, naiv anschauen und anhören, ohne einen Augenblick zu glauben, daß es sich in der Kirche befinde. Die Menschen werden sich so lange am "Nibelungen" und am "Parsifal" erfreuen, bis sie eines Tages überdrüssig sind, sich von blos "unendlicher" Melodie herumschaukeln und von stereotypen Leitmotiven leiten zu lassen. Zur selben Zeit erscheint dann wol für die Oper ein neuer "reiner Thor", d.h. ein naiver Tondichter von genialer Naturkraft, vielleicht eine Art Mozart; welcher Meister über den "Meister" wird und die lange dramatisch gemaßregelte Menschheit zur Abwechslung wieder musikalisch beherrscht.
1) Um ungefähr den Maßstab kennen zu lernen, mit welchem das neue Ereigniß gemessen wird und gemessen sein will, möge der Leser irgend eine auf "Parsifal" bezügliche Stelle in Wagner´s officiellem Organe, den "Bayreuther Blättern" aufschlagen. Da heißt es z.B.: Wer an Bayreuth glaubt, in dem Sinne des Wagner´schen Glaubens, der gehört zum echten Bayreuther Patronat. Unsere Blätter werden es versuchen, diesen erhabenen Glauben, der uns beseelt, auch für ihre neuen Leser in Wissen umzuprägen, und wo das Wissen wiederum verstummen muß vor der Heiligkeit des göttlichen Geheimnisses, da wird der "Parsifal" uns Allen gemeinsam mit seinen beseligenden Weiheklängen die Freudenkunde offenbaren: der Glaube lebt!" - Wir enthalten uns jeder Glosse.
2) Wir citiren einige Stellen aus jenem älteren Glaubensbekenntnis Wagners: "So viel erkannt der redliche Dichter auf den ersten Blick, daß das Christentum weder Kunst war, noch irgendwie aus sich die wirklich lebendige Kunst hervorbringen konnte . . . Die Heuchelei ist der hervorstechendste Zug, die eigentliche Physiognomie der ganzen christlichen Jahrhunderte, bis auf unsere Tage, und zwar tritt dieses Laster ganz in dem Maße immer greller und unverschämter hervor, als die Menschheit aus ihrem inneren unversiegbaren Quell und trotz des Christenthum sich neu erfrischte und der Lösung ihrer wirklichen Aufgaben zureifte . . . Der künstlerische Ausdruck dieser neuen Welt konnte sich immer nur im Gegensatze, im Kampfe gegen den Geist des Christenthums geltend machen . . Die ritterliche Poesie war die ehrliche Heuchelei des Fanatismus. In Wahrheit konnte das christliche Kunstideal sich nur als fixe Idee, als Gebilde eines Fieber-Paroxysmus kundgeben, weil er eben außerhalb der menschlichen Natur Ziel und Zweck hernehmen und daher seine Verneinung, sein Ende in dieser Natur finden mußte. Die menschliche Kunst der Zukunft wird in dem ewig grünenden Boden der Natur festwurzeln." |