Das Judenthum in der Musik (1850/1869)

Wagner veröffentliche seine Schrift "Das Judenthum in der Musik" im September 1850 in der renommierten "Neuen Zeitschrift für Musik" in Leipzig. Zu diesem Zeitpunkt lebte Wagner als politischer Flüchtling in Zürich. Jedoch ergibt sich aus einem Briefentwurf Minna Wagners aus dem Frühjahr 1850, dass Wagner bereits zwei Jahre zuvor, noch in Dresden, die Grundgedanken seines Textes formuliert hatte:

"Nun wiederum seit zwei Jahren, als Du mir jenen Aufsatz vorlesen wolltest, worin Du ganze Geschlechter schmähtest, die Dir doch im Grunde Liebes gethan, seit jener Zeit grolltest Du mir und straftest mich damit so hart, daß Du mir nie etwas allein von Deinen Arbeiten mehr zu hören gabst".

Aus diesem Schreiben Minnas wird ersichtlich, dass sie den antisemitischen Text ablehnte, den ihr Wagner vorgelesen hatte. Wagner reagierte darauf, indem er sie fortan nicht mehr zu Rate zog. Sehr wahrscheinlich ist, dass dieser Brief Wagners von Cosima vernichtet wurde. Wagner hat für die Publikation in der "Neuen Zeitschrift für Musik" einen tagesaktuellen Bezug gewählt: die Kampagne gegen Giacomo Meyerbeer, die von Wagners engem Freund Theodor Uhlig geführt wurde. Dennoch war diese Schrift nicht der Ausdruck einer spontanen und plötzlichen Judenfeindschaft; seine eigenen Äußerungen belegen, dass auch diese Arbeit den Endpunkt eines längeren Prozesses darstellte. Zudem ist "Das Judenthum in der Musik"  nicht alleine aus den persönlichen Konflikten mit Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer heraus zu erklären; vielmehr richtete sich Wagner gegen Juden als gesellschaftliche Gruppe. Richard Wagner vertrat Positionen, die ihn zu einem der ersten Vertreter des modernen Antisemitismus machten. Er verzichtete auf eine religiöse Definition von Juden und behauptete in Anlehnung an die zeitgenössische Anthropologie, dass Juden an den angeblichen Besonderheiten ihrer Sprache zu erkennen seien. Für ihn waren die Juden im Unterschied zum traditionellen Antijudaismus nicht nur eine unerwünschte konfessionelle Minderheit, welche aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden sollte. Vielmehr stellten sie für Wagner eine Bedrohung dar und waren gefährlich; ihren Einfluss nannte er "Verjüdung". Wagner war offenkundig der Erste, der diesen Ausdruck verwendete, der schließlich als "Verjudung" zum festen Begriffsrepertoire radikaler Antisemiten gehören sollte. Damit formulierte Wagner auch die Vorstellung, das Kulturleben würde insgeheim durch Juden dominiert und beherrscht. Die Juden wurden damit zu Sinnbildern einer modernen Gesellschaft, die sich nach der Anschauung Wagners im Niedergang befand. Wagner beschrieb diese Entwicklung Bildern des biologischen Zerfalls:

"Erst wenn der innere Tod eines Körpers offenbar ist, gewinnen die außerhalb liegenden Elemente die Kraft, sich seiner zu bemächtigen, aber nur um ihn zu zersetzen; dann löst sich wohl das Fleisch dieses Körpers in wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf".

Seine Gegenmaßnahmen bezeichnete Wagner in  "Das Judenthum in der Musik" mit dem nebulösen Ausdruck "Befreiungskampf". Zur gleichen Zeit entwickelte er jedoch mit der Idee der Festspiele bereits ein viel umfassenderes Programm der künstlerischen und sozialen Erneuerung.

Im Dezember 1868, als er von München in Schweiz geflohen war, entschloss sich Wagner, der den Einfluss der Juden auf die bayerische Politik für sein Scheitern verantwortlich machte, die Schrift "Das Judenthum in der Musik" erneut zu veröffentlichen.  Damit fiel die Neupublikation in eine Phase, in der die politische Emanzipation der Juden in den deutschen Ländern eigentlich abgeschlossen schien. Die Einschränkungen der Rechte jüdischer Bürger waren schrittweise aufgehoben worden. Festgeschrieben wurde diese Entwicklung schließlich mit der Verkündung eines entsprechenden Gesetzes für den Norddeutschen Bund am 3. Juli 1869, dem auch Bayern wenig später beitrat. Wagner wollte offenkundig vor der Emanzipation der Juden warnen und diesen Prozess wieder rückgängig machen. Diesmal veröffentlichte er "Das Judenthum in der Musik" nicht anonym wie noch im Jahr 1850, sondern als Broschüre unter seinem eigenen Namen. Cosima hat in ihrem Tagebuch die Arbeit an der Neupublikation sorgfältig dokumentiert. Bereits im Januar 1869 beendete Wagner die Überarbeitung seines Textes und am 9. März erhielt er die ersten druckfrischen Exemplare zugesandt. Den ursprünglichen Text musste Wagner nur geringfügig überarbeiten, doch im neuen Schlussabschnitt nahm er jetzt deutliche Verschärfungen vor. Der entscheidende, in einer Nachbetrachtung eingefügte Satz, lautete jetzt:

"Ob der Zerfall unsrer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden Elementes aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu Kräfte gehören müßten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist".

Mit dieser Formulierung machte Wagner deutlich, dass er den "Abwehrkampf" durchaus als ein gewalttätiges Handeln gegen Juden verstand. Mit der Neupublikation erzielte Wagner, inzwischen ein bekannter Künstler, eine nachhaltige öffentliche Wirkung. Trotz heftiger Angriffe bestand Wagner darauf, dass in der Ausgabe seiner "Gesammelten Schriften und Dichtungen", die bereits 1872 erschien, das "Judenthum in der Musik" erneut abgedruckt wurde. Er wollte damit unmissverständlich deutlich machen, dass auch dieser Text ein wesentliches Element seines Gesamtwerkes darstellte.