Das Kunstwerk der Zukunft (1850)

Wagner schrieb diese zweite Abhandlung aus der Reihe der Zürcher Kunstschriften im Oktober 1849 und veröffentlichte den Text 1850 im Verlag Otto Wigand in Leipzig. Wagner hat seine Schrift dem Philosophen "Feuerbach in dankbarer Verehrung gewidmet". Die Bücher Ludwig Feuerbachs erschienen ebenfalls im Verlag Otto Wigand, in dem Wagner zu dieser Zeit regelmäßig publizierte. Mit dem Titel verwies Wagner auf das bereits 1843 erschienene Hauptwerk Feuerbachs "Grundsätze der Philosophie der Zukunft", das Wagner jedoch erst im schweizer Exil unter dem Einfluss von Georg Herwegh kennengelernt hatte. In seiner an Feuerbach gerichteten Vorrede erläuterte Wagner, wie ihm die Philosophie Feuerbachs die Erklärung dafür gegeben habe, weshalb seine bisherigen künstlerischen Bemühungen letztlich gescheitert seien:

"Daran, daß mir dieß nie vollständig gelingen dürfte, mußte ich erkennen, daß nicht der Einzelne, sondern nur die Gemeinsamkeit unwiderleglich sinnfällige, wirkliche künstlerische Thaten zu vollbringen vermag. Dieß erkennen heißt, sobald dabei im allgemeinen die Hoffnung nicht aufgegeben wird, soviel als: gegen unsere Kunst und Lebenszustände von Grund aus sich empören".

Wagner übernahm von Feuerbach den radikalen Sensualismus und versuchte daran anschließend eine anthropologische Begründung seiner Theorie des Musiktheaters zu konstruieren. Damit ergänzte Wagner seine bislang nur historisch ausführten Positionen aus "Das Kunstwerk und die Revolution" um eine philosophische Dimension. Als die Grundlage jeder Kunst proklamierte Wagner nicht den individuellen Menschen, sondern das Volk. Die verschiedenen Kunstformen wurden nach ihren unmittelbaren sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten interpretiert. Als die "reinmenschlichen Kunstarten" galten Wagner Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst; danach kamen Baukunst, Bildhauerkunst und Malerei. Im Gesamtkunstwerk sollten diese unterschiedlichen Formen zusammengefügt werden, der Schöpfer wäre jedoch nicht ein Künstler, sondern die "freie künstlerische Genossenschaft" gewesen. Wagner interpretierte die historische Entwicklung vom Gesamtkunstwerk ausgehend als Prozess der Dekadenz und der Regeneration.

Das von Wagner in dieser Schrift entwickelte utopische Modell der Kunstproduktion gehörte zu seinen radikalsten Entwürfen, die er in Reaktion auf die gescheiterten Revolutionen von 1848/49 formulierte. Sein Umgang mit dem philosophischen Vorbild Feuerbach blieb jedoch eklektisch und es gelang Wagner nicht, aus diesen Ansätzen eine stimmige Theorie zu formulieren. Das philosophische Konzept dieser Arbeit wurde von ihm nicht weiterverfolgt. Bereits in seiner nächsten theoretischen Schrift "Oper und Drama" hat Wagner die hier vertretene Vision eines gemeinschaftlichen Kunstwerks aufgegeben und den genialen Künstler wieder in das Zentrum seiner Kunsttheorie gestellt. Bei der Wiederveröffentlichung von "Das Kunstwerk der Zukunft" in seinen "Gesammelten Schriften und Dichtungen" 1872 unterdrückte Wagner die Widmung wie auch die Vorrede an Feuerbach.