Logo Nestroy

Biografie
  1813 – 1832  Jugend
  1833 – 1842  Theaterpraxis
  1842 – 1849  Dresden
  1849 – 1858  Exil in Zürich
  1858 – 1864  Wanderjahre
  1864 – 1865  München
  1866 – 1870  Exil in Tribschen
  1871 – 1876  Bayreuth
  1877 – 1883  Tod in Venedig

Frauen
  Jugend
  Minna Planer
  Jessie Laussot
  Mathilde Wesendonck
  Liebschaften
  Cosima
  Judith Gautier
  Carrie Pringle

Freunde
  Franz Liszt
  Hans von Bülow
  Ludwig II.
  Friedrich Nietzsche
  Theodor Apel
  Heinrich Laube
  August Röckel
  Michail Bakunin
  Samuel Lehrs
  Heinrich Heine
  Gottfried Semper
  Wilhelmine Schröder-Devrient
  Eliza Wille
  Malwida von Meysenbug

Familie
Kinder

Die jüdische Frage
  Giacomo Meyerbeer
  Maurice Schlesinger
  Heinrich Heine
  Samuel Lehrs
  Jacques Fromental Halévy
  Felix Mendelssohn Bartholdy
  Heinrich Porges
  Jacques Offenbach
  Eduard Hanslick
  Carl Tausig
  Joseph Rubinstein
  Hermann Levi
  Alfred Pringsheim
  Angelo Neumann
  Der fliegende Holländer
  Alberich
  Mime
  Beckmesser
  Kundry

Lebensorte
  Leipzig
  Dresden
  Schweiz
  Paris
  Wien
  
München
  Bayreuth

  Venedig

 
 
 
WAGNERS BIOGRAFIE    SYNCHRONIK    THEATERSTÜCK    AUSSTELLUNG 

Paris

Am 17. September 1839 trafen die Wagners voller Hoffnungen in Paris ein und zeigte sich von der Stadt zunächst wenig beeindruckt: "Mit der höchsten Spannung meiner Ankunft in dem ersehnten Paris zugewandt, bedauerte ich zunächst, von dieser Stadt nicht den großartigen Eindruck wiederzugewinnen, den mir zuvor London verschafft hatte. Alles schien mir enger, eingedrückter, und namentlich von den berühmten Boulevards hatte ich mir kolossalere Vorstellungen gemacht. Unerhört war mein Ärger, in einer gräßlich engen Gasse, der rue de la Jussienne [gleichnamige Strasse existiert noch, etwa 300 Meter nördlich von Les Halles], von unsrer riesigen Diligence herab zum ersten Male den Pariser Boden betreten zu müssen." (ML).

Möglicherweise ist Wagners Eindruck durch die folgende missliche Zeit in Paris rückblickend verzerrt. Es ist nicht leicht, sich aus heutiger Sicht das Paris vorzustellen, das Wagner damals erlebte, da das Pariser Stadtbild durch Baron Georges Eugène Haussmann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend umgestaltet wurde. Udo Bermbach beschreibt das Paris zu Wagners Zeit, von Walter Benjamin als "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" bezeichnet, als "kulturelle Metropole des alten Kontinents":

"Paris war eine Stadt im Aufbruch, nach der Juli-Revolution von 1830 die Stadt des ,,juste milieu", des aufstrebenden Finanzbürgertums und einer dekadenten aristokratischen Jugend, der "jeunesse doree". Aber es war auch eine politisch brodelnde Stadt, in der Reichtum und Armut nahe beieinanderlagen, in der die sozialen Gärungen der späten zwanziger Jahre, die Revolution von 1830 und nachfolgende Unruhen und Aufstände in Frankreich einflussreiche utopisch-sozialistische Theoretiker wie Henri de Saint-Simon (1760-1825), Louis-Auguste Blanqui (1805-1881), Jean-Joseph-Louis Blanc (1811-1882) oder auch Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) hervorbrachten, in der es eine linke, radikal- demokratische deutsche Emigrantenszene gab, zu der Heinrich Heine (1797-1856), Ludwig Börne (1786-1837), Arnold Ruge (1802-1880) oder auch Karl Marx (1818-1883) zählten." (Udo Bermbach: "Richard Wagner. Stationen eines unruhigen Lebens")

La liberté guidant le peuple von Eugène Delacroix
   

La liberté guidant le peuple von Eugène Delacroix


 

Ein Symbolbild dieser Szene war das 1830 entstandene Gemälde "La Liberté guidant le peuple" ("Die Freiheit führt das Volk") des französischen Malers Eugène Delacroix. Heinrich Heine, der es 1831 im Pariser Salon gesehen hatte, attestierte dem Bild "trotz etwaniger Kunstmängel [...] ein[en] große[n] Gedanke[n], der uns wunderbar entgegenweht" (das Bild hängt heute im Louvre).

Das Pariser Musikleben wurde im 19. Jahrhundert durch die Oper dominiert. Die Theaterlandschaft war vielfältig, aber vom Staat streng reglementiert – was das Repertoire, die Größe des Ensembles, die Länge der Aufführungen usw. betraf. Das herausragende Opernhaus war die Opéra (bis zum Brand 1873 in der Salle de la rue Le Peletier, seit 1875 im Palais Garnier (9. Arrondissement, 8, rue Scribe)). Ursprünglich die Oper der Stadt Paris wurde die Opéra 1802 von Napoleon Bonaparte in den Rang eines Staatstheaters erhoben. Zur Finanzierung wurde eine Sondersteuer eingeführt, die alle Theater Frankreichs an die Opéra abführen mussten. Diese Abgabe wurde erst 1830 nach der Juli-Revolution abgeschafft. Die Opéra spielte nur an drei Tagen in der Woche: Montags, Mittwochs und Freitags, was eine hohe Qualität der Aufführungen ermöglichte; an den übrigen Tagen stand das Haus für Bälle und Tanzveranstaltungen zur Verfügung. Wie an den anderen Pariser Theatern wurde beinahe das ganze Jahr hindurch gespielt. Mit der Uraufführung von Aubers "La muette de Portici" (Die Stumme von Portici) 1828 wurden Gattungsnormen für die Grand Opéra - die Große romantische Oper- etabliert, die jahrzehntelang Gültigkeit haben sollten. Auber verknüpfte zwei historische Ereignisse in einer Bühnenhandlung: die Revolution in Neapel von 1647 und den Ausbruch des Vesuv 1631.

Kennzeichnend für die Grand Opéra war seitdem das historisch-realistische Szenario, ein Held oder eine Heldin, die tragisch scheiterten, die Integration von Chorszenen und Ballett in die Handlung und das dramatisch-katastrophale Finale. Um die besonderen szenischen Herausforderungen dieser Opernform zu bewältigen, wurde an der Opéra eine Inszenierungs-Kommission etabliert und die neue Stelle des Oberregisseurs - "metteur-en-scene"- geschaffen. Bekannt war die Opéra für ihre technischen Innovationen und neuartigen Bühneneffekte: in der Uraufführung von Giacomo Meyerbeers "Le prophete" 1849 wurde das Ballett der Schlittschuhläufer von Rollschuhläufern dargestellt; für die "Propheten-Sonne" am Ende des 3. Aktes wurde erstmals ein elektrischer Scheinwerfer in einem Theater eingesetzt. Zu jeder neuen Oper erschienen umfangreiche Regiebücher, die sicherstellen sollten, dass die Inszenierungen der Opéra als Musteraufführungen von anderen Bühnen möglichst genau reproduziert werden konnten.

   
 

Der Grande Salle der Oper während einer Ballettaufführung
(Gemälde von 1864)

   

Wagner verachtete einerseits den Pomp der Grand opéra, andererseits biederte er sich an und hoffte auf wirtschaftlichen und künstlerischen Erfolg. Ganz konnte er sich der Bewunderung für die aufwändige Bühne, auf die er seinen "Rienzi" ausgerichtet hatte, nicht erwehren:

"Alle Vornehmen und Reichen, die sich in der ungeheuren Weltstadt der ausgesuchtesten Vergnügungen und Zerstreuungen wegen aufhalten, versammeln sich, von Langeweile und Genusssucht getrieben, in den üppigen Räumen dieses Theaters, um das höchste Maß von Unterhaltung sich vorführen zu lassen. Die erstaunlichste Pracht an Bühnendekorationen und Theaterkostümen entwickelt sich da [...] vor dem schwelgenden Auge, das wiederum mit gierigem Blicke dem kokettesten Tanze des üppigsten Ballettkorps der Welt sich zuwendet; ein Orchester von der Stärke und Vorzüglichkeit, wie es sich nirgends wieder findet, begleitet [...] die glänzenden Aufzüge ungeheurer Massen von Choristen und Figuranten, zwischen denen endlich die kostspieligsten Sänger [...] auftreten [...]." (Richard Wagner über die Pariser Grand opéra in: "Ein Theater in Zürich", 1851)

Wagner setzte seine Hoffnungen schließlich auch auf das kleinere Théâtre de la Renaissance, das 1838 unter der Schirmherrschaft von Victor Hugo und Alexandre Dumas dem Älteren eröffnet worden war. (Das Gebäude, genannt Salle Ventadour, in der Rue Neuve-Ventadour, heute Rue Méhul ist erhalten). Hier hoffte er – wiederum vergeblich – das "Liebesverbot" unterzubringen.

In den 1830er Jahren war in Paris neben der etablierten Oper aber auch eine vielfältige Salon- Szene entstanden. Mitglieder der Königsfamilie, die Adelsfamilien im Faubourg Saint-Germain und die neuen Reichen aus dem Bürgertum öffneten ihre Häuser an einem festen Wochentag einem meist festen Kreis von Gästen; oft waren auch Musiker geladen. Hier präsentierten sich junge oder von auswärts gekommene Künstler und fanden mit Glück Protektion. Virtuosen wie Thalberg und Kalkbrenner nutzten die Chance, viele von ihnen konzertierten auch in den Sälen der Klavierbaufirmen wie Érard und Pleyel. Im Salle Pleyel, ab 1839 in der Rue Rochechouart 22 gelegen, traten unter anderen Frédéric Chopin und Franz Liszt auf (Salle Pleyel seit 1927 im Neubau in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré 252). 1828 gründete sich die Société des concerts du Conservatoire (Gebäude an der Rue du Conservatoire, Ecke Rue Sainte-Cécile erhalten), ihre Konzerte waren das wichtigste Forum symphonischer Musik im 19. Jahrhundert.

Wagner selbst konnte auch in diesen Kreisen nicht landen. "Wagners Hoffnungen auf seinen großen Durchbruch zerstoben indessen schnell. Er war unbekannt und, wie er nur allzu bald bemerkte, lediglich einer unter vielen Emigranten. Doch konnte er mit dem ihm eigenen Witz, mit seinem Charme und seiner literarischen wie musikalischen Bildung einige Freunde um sich versammeln. Aber sie alle – einschließlich Heinrich Heines, den er damals kennenlernte und verehrte, dessen Gedicht "Les deux grenadiers" er vertonte und aus dessen "Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" (1834) er schon um 1837/38 die Anregung zu seinem "Fliegenden Holländer" genommen hatte, über den er positiv schrieb und den er später dann aus seinen Erinnerungen verdrängte – waren selbst arm und bedürftig, hatten selbst kaum ihr wirtschaftliches Auskommen. Trotz einer freundlichen Empfehlung des die Pariser Opernszene beherrschenden Meyerbeer gelang es Wagner nicht, in die Zirkel derer, die mitmischten, aufgenommen zu werden." (UB)

Für Wagner begannen vier Jahre materieller Not und herber Enttäuschung. Den dürftigen Lebensunterhalt verdiente er sich durch musikalische Gelegenheitsarbeiten, als Journalist für die "Gazette musicale" und als Korrespondent der "Dresdner Abendzeitung".

"Journalistische Gelegenheitsarbeiten und Nebenbei-Kompositionen sowie Klavierbearbeitungen von aktuellen Opern waren nicht nur ungeliebte, sondern geradezu verhasste Tätigkeiten, zumal sie trotz aller Anstrengungen den täglichen Geldbedarf nicht decken konnten. Und so stand die Aussicht, in den Schuldturm zu müssen, ständig drohend vor ihm. Die vier Jahre, die Wagner in Paris zubrachte, waren denn auch die Jahre seines tiefsten Elends, des größten Geldmangels, der schlimmsten persönlichen Erniedrigung und des geringsten Erfolgs, es waren Jahre, die Wagners Abneigung gegen Paris und alles Französische begründeten. Mehr und mehr öffnete er sich unter dem Druck des täglichen Überlebenskampfes den in Paris umlaufenden radikalen, sozialistischen und anarchistischen Gedanken und Theorien, deren Versatzstücke sich durch Lektüre wie Gespräch als seine politischen Grundüberzeugungen herauszubilden begannen und für den Rest seines Lebens weitgehend bestimmend blieben. Eine wichtige Lektion war ihm dafür die Schrift "Qu'est-ce que la Propriete?" ("Was ist Eigentum?" 1840) von Pierre Joseph Proudhon, einem Sozialisten und Anarchisten ganz eigener Prägung, der lehrte, dass nur Arbeit die Grundlage aller Existenz sein dürfe, eine nicht gerechte Entlohnung deshalb Ausbeutung sei und abgeschafft werden müsse. Ziel sollte es nach Proudhon sein, dass "keine Regierung des Menschen durch den Menschen mehr, vermittels der Anhäufung von Gewalt! Keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mehr, vermittels der Anhäufung der Kapitalien" bestehe. Noch wenige Tage vor seinem Tod, im Februar 1883 in Venedig, hat Wagner bemerkt, Proudhon habe mit seiner Auffassung von der verhängnisvollen Rolle des Eigentums recht gehabt, aber noch zu wenig radikal gedacht." (UB)

Die finanzielle Misere bringt eine Reihe von Umzügen mit sich: Die Wagners wohnten zunächst in einem billigen Hotel garni in der Nähe der Markthallen, dem später von Émile Zola im gleichnamigen Roman verewigten "Bauch von Paris", in der Rue de la Tonnellerie 3. Das Haus und die Straße existieren heute nicht mehr. Die Umgebung war ärmlich, Wagner fand Trost darin, dass es sich bei seiner ersten Unterkunft in Paris angeblich um Molières Geburtshaus handelte:

"Als ich nun von hier aus, zum Einzug in die für mich gemietete Chambre garnie, in eine der engen Seitengassen, welche die rue St. Honore mit dem marche des Innocents verbindet, der rue de la Tonnellerie, gewiesen wurde, kam ich mir wirklich wie degradiert vor. Es bedurfte der tröstlichen Inschrift des Hauses meines Hotel garnis, welche unter einer Büste Molieres die Worte enthielt: Maison ou naquit Moliere, um mich durch gute V orbedeutung für die empfangenen geringen Eindrücke einigermaßen zu trösten. Klein aber freundlich und wohlanständig ausgestattet, empfing uns das um billigen Preis für uns bereitgehaltene Zimmer des
 vierten Stockes, aus dessen Fenstern wir bald mit wachsender Bangigkeit auf das ungeheure Marktgewühle in den Straßen herabblickten, von dem ich nicht zu begreifen vermochte, was ich in seiner Nähe zu suchen haben könnte." ("Mein Leben").

Rue de la Tonnellerie und Les Halles, Gemälde aus der 1. Hälfte 19. Jhdt.  Rue de la Tonnellerie und Les piliers des Halles  Rue de la Tonnellerie um 1865  Heutige Ansicht von Wagners Wohnhaus in Meudon
             
Rue de la Tonnellerie und Les Halles, Gemälde aus der 1. Hälfte 19. Jhdt.   Rue de la Tonnellerie und Les piliers des Halles   Rue de la Tonnellerie um 1865   Heutige Ansicht von Wagners Wohnhaus
in Meudon

Am 15. April 1840 zog Wagner in die 25, Rue du Helder, wo er am 19. November die "Rienzi"-Partitur abschloss. Seine damalige Wohnung, nicht weit von der heutigen Oper entfernt, ist heute nicht mehr aufzufinden. Da Wagner die Miete bald nicht mehr aufbringen konnte, mietete er am 29. April 1841 eine billigere Wohnung "auf dem Lande". Sie lag in Meudon, jetzt an der Südwestperipherie von Paris, etwas außerhalb des Ortskerns, 27, Avenue du Chateau. "Mit dieser Entfernthaltung von allem Pariser künstlerischen wie sozialen Scheinwesen hatte es eine ernste Bewandtnis. Teils meine notvollen Erlebnisse, teils aber auch der in meinem ganzen Bildungsgange innerlichst vorbereitete Ekel vor demjenigen künstlerischen und geselligen Treiben, welches früher mir so überwältigend anziehend vorgekommen war, hatten mit wahrhaft erschreckender Schnelligkeit von jeder Berührung mit ihm zurückgetrieben." ("Mein Leben"). In dem kleinen Häuschen, an dessen Vorderfront eine Wagner-Gedenktafel befestigt ist, wandte Wagner sich dem "Fliegenden Holländer" zu: Vom 18. bis 28. Mai 1841 schrieb er die Urfassung des Textbuches nieder und brachte vom 11. Juli bis 22. August, also in einem Schaffensrausch von knapp sieben Wochen, die gesamte Komposition zu Papier. Am 18. Oktober 1841 war die Partitur des dreiaktigen Werkes beendet.

Rue Jacob No. 14  Gedenktafel in der Rue Jacob No. 14
       

Rue Jacob No. 14

  Gedenktafel in der Rue Jacob No. 14  

Am 30. Oktober kehrte Wagner nach Paris zurück, quartierte sich im Hinterhaus der 14, Rue Jacob (Gedenktafel) ein – später wohnte dort auch Joseph Proudon, der Autor von "Qu'est-ce que la propriété" – und komponierte die Ouvertüre zum "Fliegenden Holländer". Die Partitur, und damit die ganze Oper, war am 19. November 1841 fertig. Doch die Hoffnung, den erfolgreichen Durchbruch als Komponist in Paris vielleicht noch erzwingen zu können, gab er bald auf. Tief verbittert vom dauernden Misserfolg verließ er mit Minna schließlich am 7. April 1842 Frankreich und ging zurück nach Deutschland, zunächst nach Dresden, denn dort gab es mittlerweile begründete Aussichten auf Aufführungen des "Rienzi" und gleich darauf nach Berlin, wo eine Uraufführung des "Fliegenden Holländers" in Aussicht stand.

 

 

Paris 1849

Im Juni 1849 kam Wagner zum zweiten Mal in seinem Leben als Flüchtling nach Paris. Diesmal nicht aus eigenem Antrieb; Franz Liszt hatte Wagner zu diesem Schritt gedrängt, da er glaubte durch die Veröffentlichung seines Aufsatzes über den "Tannhäuser" in Frankreich günstige Voraussetzungen für diesen riskanten Karriereschritt geschaffen zu haben. Wagner traf am 2. Juni in Paris ein und bezog ein ärmliches Zimmer in der Rue Notredame de Lorette. Bereits am 4. Juni berichtete er Minna von seiner ersten, zufälligen Begegnung mit Giacomo Meyerbeer:

"Alles, was jetzt hier aber zu thun ist, können nur Vorbereitungen sein: der Zweck kann vermuthlich erst im Herbst, dem Beginn der Pariser Saison, erreicht werden. Zunächst gilt es, mich durch die Zeitungen u. Journale gehörig bekannt machen zu lassen u. eine Stellung einzunehmen gegenüber den zahllosen Intriguen, denen ich ausgesetzt sein werde, und deren Fäden meistens alle in der Hand Meierbeer's liegen. Nachdem Liszt's Artikel über Tannhäuser hier erschienen war, soll Meierbeer schon gemerkt haben, worauf das hinauswollte: wie ich nun in die Schlesingersche Handlung trat u. da sehr freundlich empfangen wurde, war Meierbeer auch da, aber zufällig hinter einer Comptoirblende versteckt, hinter welcher er auch blieb, als er mich sprechen hörte, so daß es schien, als ob Schreck über meine plötzliche Gegenwart u. böses Gewissen wegen seiner Berliner Intriguen ihn zurückhielten: als ich endlich erfuhr, er sei da, ging ich sehr freundlich u. unbefangen hinter die Blende u. holte ihn da vor: er war verlegen u. fade, und ich weiß genug um vor ihm auf der Hut zu sein. Das Wichtigste ist nun, daß ich selbst in einem großen Artikel hervortrete u. meine Ansicht über das Theater im Allgemeinen u. über seine Zukunft, sowie über meine eigene künstlerische Stellung darin so glänzend u. warm wie möglich kund gebe: denn wer nicht durch Geldbestechung unter diesen Leuten wirken kann, der muß es insofern durch sein Talent thun, daß er macht, daß er gefürchtet wird".

Wagner sah sich jetzt als Konkurrent Meyerbeers und nicht als Bittsteller, wie noch einige Jahre zuvor. Durch Vermittlung Liszts und der Hilfe seines in Paris tätigen Sekretärs Belloni nahm Wagner Kontakt mit dem Librettisten Gustav Vaez auf, einem ehemaligen Mitarbeiter Eugene Scribes. Doch alle Versuche von einem der Pariser Opernhäuser einen Kompositionsauftrag zu erhalten, blieben erfolglos. Die Gründe hierfür lagen auf der Hand: die Pariser Theater befanden sich wegen der revolutionären Unruhen in ganz Europa in einer akuten Krise, und die Operndirektoren waren unter diesen Umständen nicht bereit, das Risiko einzugehen, einen Komponisten zu verpflichten, der bisher noch kein Werk für eine französische Bühne und ein französisches Publikum vorgelegt hatte. Bereits nach wenigen Wochen reiste Wagner enttäuscht ab und zog sich endgültig nach Zürich zurück. Wagner sah nun in Meyerbeer den eigentlich Schuldigen für seinen Scheitern und Paris erschien ihm jetzt als eine Stadt der Korruption. An seinem Freund Ferdinand Heine schrieb er am 19. November 1849: "In den letzten Jahrzehnten sind unter Meyerbeer´s Geldeinflusse die Pariser Opernkunstangelegenheiten so stinkend scheußlich geworden, daß sich ein ehrlicher Mensch nicht mit ihnen abgeben kann".

Paris 1859-1861

 Innenansicht des Théâtre-Italien um 1843  Der Salle Choiseul des Théâtre des Bouffes-Parisiens um 1859
       
  Innenansicht des Théâtre-Italien um 1843   Der Salle Choiseul des Théâtre des Bouffes-Parisiens um 1859
       
       

Im September 1859 richtete Wagner sich erneut in Paris ein. Zunächst wohnte er in der Avenue Matignon No. 4, im Oktober zog er in die Rue Newton No. 16. (beide Häuser sind nicht erhalten), wo er sich im Vertrauen auf einen baldigen Erfolg aufwendig einrichtete und Hauspersonal anstellte.

Im November kam auch Minna Wagner aus Dresden nach Paris. Anfang 1860 (25. Januar, 1. und 8. Februar) fanden drei Konzerte mit Teilen aus dem "Fliegenden Holländer", "Tannhäuser", "Lohengrin" und – der zwischenzeitlich vollendeten Oper – "Tristan und Isolde" im Théâtre-Italien statt (so wurde 1841-1868 der Salle Ventadour genannt), endeten jedoch trotz Erfolg beim Publikum mit einem finanziellen Defizit. Wagner richtete ein Gesuch an Kaiser Napoleon III. und bat darum, die Konzerte in der Opéra wiederholen zu lassen. Nach einiger Zeit erhielt Wagner durch einen kaiserlichen Hofbeamten die Nachricht, es wäre besser, er würde eine neue Oper für die Opéra komponieren. Zu diesem Zeitpunkt plante Wagner jedoch, eines seiner älteren Bühnenwerke durch ein deutsches Ensemble in Paris aufzuführen.

Wagner war inzwischen auch in Paris kein Unbekannter mehr. Wenige Tage nach den Konzerten hatte am 10. Februar 1860 in Jacques Offenbachs Théâtre des Bouffes-Parisiens in der Rue du Monsigny No. 4 "Le carnaval des revues" Premiere. Eine Nummer dieser Karnevalsrevue war "Le musicien de l`avenir", in der der "Zukunftsmusiker" Wagner zu seinen Ungunsten mit Grétry, Weber, Mozart und Gluck konfrontiert wird, denen er entgegenhält: "Ah! Ah! Hier bin ich, hier bin ich, ich bin der Komponist der Zukunft und ich werde euch alle vernichten, euch, die Vergangenheit, euch, die Routine! Ich bin eine gesamte Revolution! Keine Noten mehr, keine Harmonie, kein Einstimmen mehr, keine Tonleitern, keine Vorzeichen, kein ‚forte' mehr und kein ‚piano'!" (das Theater ist erhalten, der Salle Choiseul, in dem die Revue stattfand, wurde nach einem Direktionswechsel umgebaut und erweitert). Die Nummer wurde so populär, dass sogar Napoleon III. sie nach einer Sondervorstellung von Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" im April 1860 im Théâtre-Italien sah.

Zur gleichen Zeit überbrachte der preußische Botschafter Paul Hatzfeld Wagner die überraschende Nachricht, dass der französische Kaiser eine Aufführung seines "Tannhäuser" in der Opéra befohlen habe. Den entscheidenden Anstoß für diese Entscheidung gab die Gattin des österreichischen Botschafters, Pauline von Metternich, die den "Tannhäuser" zuvor in Dresden mehrfach gesehen hatte und über sehr gute Beziehungen zum französischen Hof verfügte. Wagner, im Frühjahr 1860 erneut kurz vor dem Bankrott stehend, willigte ein. Der Direktor der Opéra bestand jedoch darauf, dass der "Tannhäuser" in einer französischen Übersetzung gespielt werde; zudem drängte er Wagner, das an der Opéra übliche Ballett im zweiten Akt einzufügen. Wagner entschied sich schließlich dazu, ein "Bacchanal" für diesen Zweck zu komponieren, das jedoch nicht den Konventionen des französischen Balletts entsprach und zudem an ungewohnter Stelle im ersten Akt stand. Da die Solisten der Opéra nicht bereit waren, im "Tannhäuser" zu singen, mussten neue Sänger engagiert werden. Die Partie des "Tannhäuser" übernahm der deutsche Tenor Albert Niemann, den Wagner einige Jahre später für die ersten Bayreuther Festspiele als "Siegmund" verpflichtete. Die Rolle der Elisabeth übernahm die belgische Sängerin Marie Sasse, die Venus wurde von Fortunata Tedesco gesungen, Wagner bezeichnete sie später in seiner Autobiographie "Mein Leben" als "ziemlich groteske aber üppige Jüdin".

Im August 1860 reiste Wagner für kurze Zeit nach Deutschland. In Frankfurt traf er zum ersten Mal seit der Flucht aus Dresden seinen älteren Bruder Albert. Nach der Rückkehr nach Paris im Oktober zog Wagner in die Rue d`Aumale No. 3 (Gedenktafel), da ihn Bauarbeiten in der Rue Newton beim Komponieren störten und er eine Wohnung in der Nähe der Opéra bevorzugte. Wegen einer schweren Erkrankung war er jedoch während des Winters nicht in der Lage, die Proben regelmäßig zu besuchen.

Als Wagner zu Beginn des Jahres 1861 wieder genesen war und in die Opéra kam, war bereits mit den Bühnen- und Orchesterproben begonnen worden. Es wurden insgesamt 164 Proben abgehalten, was in der Einschätzung Wagners die Sänger übermäßig beanspruchte. Auch der Dirigent entsprach nicht den Vorstellungen Wagners. Die musikalische Leitung hatte der Chefdirigent der Opéra Pierre-Louis Dietsch, viele Jahre zuvor ein Konkurrent Wagner in der Vertonung des "Holländer"-Stoffes. Die Vorbereitungen der "Tannhäuser"-Premiere war von weiteren Konflikten begleitet: Wagner wurde plötzlich geraten, das "Bacchanal" wieder zu streichen, während er mit der Ausführung des Balletts unzufrieden war. Die neue Musik zum "Venusberg" konnte Wagner erst im Laufe des Januar 1861 abschließen. Für das Bühnenbild verlangte Wagner zunächst eine exakte Kopie des Bühnenbildes der Inszenierung der Dresdener Hofoper, doch die neu angefertigten Dekorationen des berühmten Ausstatters Eduard Desplechin finden schließlich doch seine begeisterte Zustimmung. Für die "Grotte der Venus" entwarf Desplechin einen Wasserfall und einen See mit schwimmenden Nymphen und brachte in dieser Szene die hochentwickelte Bühnentechnik der Opéra zum Einsatz.

1861 Der "Tannhäuser"-Skandal

Die Uraufführung des Pariser "Tannhäuser" in Anwesenheit des französischen Kaiserpaares am 13. März 1861 führte zum berühmten "Tannhäuser"-Skandal. Bereits am Ende der ersten Aktes wurde die Aufführung durch Pfiffe und Zurufe unterbrochen. Wagner, der mit seiner Frau Minna in der Loge des Direktors saß, glaubte zunächst, der Kaiser sei verspätet in seiner Loge eingetroffen und werde begrüßt. Tatsächlich kamen die Störer aus den Reihen des Pariser Jockey Clubs, einer renommierten Vereinigung des Pariser Bürgertums. In seiner Autobiographie behauptete Wagner, Auslöser der Proteste sei das an falscher Stelle platzierte Ballett gewesen; zudem verdächtigte er Meyerbeer, die gesamte Pariser Presse gegen ihn aufgebracht zu haben. Wahrscheinlich ist jedoch, dass Wagner Opfer einer politischen Intrige wurde, die sich gegen Napoleon III. und die von ihm angestrebte Annäherung an Österreich richtete. Der Auslöser hierfür war vermutlich die Beteiligung von Pauline von Metternich an der Aufführung des "Tannhäuser". Die zweite Vorstellung musste angeblich wegen einer Erkrankung Niemanns auf den 18. März verschoben werden: Wagner nutzte die Unterbrechung für einige Kürzungen, die er auf Anraten des Direktors der Opéra kurzfristig vornahm und erst am Tag vor der Aufführung einstudiert werden konnten. Auch diesmals kam es trotz oder wegen der Anwesenheit des Kaiserpaars zu andauernden Störungen; jetzt unter dem Einsatz von Triller- und Jagdpfeifen, die an die Mitglieder des Jockey-Clubs verteilt worden waren. Albert Niemann unterbrach bereits im ersten Akt seinen Auftritt und schleuderte erbost seinen Pilgerhut in das Parkett; die Aufführung konnte nur mit Mühe zu Ende gebracht werden. Der dritten Aufführung am 24. März blieb Wagner bereits fern. Auch während dieser Vorstellung kam es zu tumultartigen Szenen im Publikum, über die Wagner durch Malwida von Meysenbug informiert wurde. Am folgenden Tag schrieb Wagner an den Direktor der Opéra:

"Die Opposition, die sich gegen den Tannhäuser kundgegeben, beweist mir, wie sehr Sie recht hatten, als Sie mir gleich anfangs über das Fehlen des Balletts und anderer herkömmlicher szenischer Gebräuche, an welche das Opernpublikum gewöhnt ist, Vorstellungen machten. Ich bedaure, daß der Charakter meines Werkes mir nicht gestattete, diesen Erfordernissen zu entsprechen. Jetzt, wo die ihm gemachte Opposition nicht einmal denjenigen Zuschauern, die es hören möchten, erlaubt, ihm die zur Würdigung desselben notwendige Aufmerksamkeit zu schenken, bleibt mir anständigerweise nichts übrig, als meine Oper zurückzuziehen. Ich ersuche Sie, diesen meinen Entschluß Sr. Exzellenz dem Herrn Staatsminister mitzuteilen".

Der "Tannhäuser" blieb die einzige Inszenierung einer Oper Wagners zu seinen Lebzeiten in Paris. Dennoch bedeutete der "Tannhäuser"-Skandal keinen reinen Misserfolg für das Ansehen Wagners in Frankreich. Charles Baudelaire (1821-1867) etwa urteilte in seinem folgenreichen Essay über "R. Wagner et Tannhauser à Paris": "Kein anderer Musiker reicht an Wagner in der Fähigkeit, den Raum und die Tiefe, im wirklichen wie im spirituellen Sinne, zu malen. [...] Er besitzt die Kunst, durch feine Abstufungen alles, was im geistigen und natürlichen Menschen an Außerordentlichem, Maßlosem, Brünstigem vorhanden ist, auszudrücken." "Das Jahr 1860 markiert den Beginn des französischen "Wagnérisme".

  Hotel du Quai Voltaire
       
  Gedenktafel am Hotel du Quai Voltaire   Hotel du Quai Voltaire
       
       

Kritik an Wagner kam dagegen aus den Kreisen der Musikerschaft. Jacques Offenbach schrieb nach der Premiere: "Gelehrt und langweilig sein, ist nicht gleichbedeutend mit Kunst; mehr wiegt, pikant und melodienreich reich". Der Komponist und Direktor des Konservatoriums Daniel Auber, dessen Oper "La muette de Portici" (Die Stumme von Portici) Wagner bewundert hatte, erklärte öffentlich: "Wie schlecht wäre das, wenn das Musik wäre".

Wenig später verließ Wagner Frankreich. Für Deutschland hatten sich neue Perspektiven eröffnet, denn seit Juli 1860 galt für ihn eine Teilamnestierung, die zwei Jahre später verallgemeinert wurde. Wagner begann ein rastloses Wanderleben, das ihn in den folgenden Monaten auch noch mehrfach nach Paris zurückführte.

Ein knappes Jahr später, Ende Dezember 1861 bis Ende Januar 1862 wohnte er im Hôtel du Quai Voltaire (19, Quai Voltaire, Gedenktafel): "So reiste ich gegen Mitte Dezember nach Paris ab, wo ich für das erste in dem unscheinbaren »Hotel Voltaire« am Quai gleichen Namens ein sehr bescheidenes Zimmer, aber mit angenehmer Aussicht, bezog." (ML). Hier vollendete er die Verssetzung der "Meistersinger von Nürnberg".

1870 Eine Kapitulation

Proklamation des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal
   

Proklamation des Deutschen Kaiserreichs
im Spiegelsaal

 

 

1870 machte Wagner Paris zum Spielort seines "Lustspiels in antiker Manier" mit dem Titel "Eine Kapitulation", das er noch während der Belagerung von Paris verfasste und anschließend anonym und ohne Erfolg einigen Unterhaltungstheatern in Berlin anbot.

In einer Mixtur aus französischer und deutscher Sprache geht es um die Kapitulation der französischen Republik vor den deutschen Truppen, die bereits Teile von Paris zerstört haben. Schauplatz ist der Platz vor dem Pariser Rathaus, das bereits durch den Beschuss der deutschen Artillerie zerstört wurde. Wagner lässt den damaligen Direktor der Opéra, Jules Perrin, auftreten, der versuchen soll, Paris mittels einer Opern-Inszenierung zu retten. Die glanzvolle Aufführung einer Oper in Paris soll dafür sorgen, dass die anderen europäischen Staaten ihre Armeen schicken und die Deutschen wieder verjagen. Perrin schlägt dafür Meyerbeers "Robert der Teufel" und Rossinis "Wilhelm Tell" vor. Schließlich übernimmt jedoch Jacques Offenbach das Kommando. Unter seiner Leitung verwandeln sich die Ratten der Pariser Unterwelt in ein frivoles Ballett.

Nach Wagners Regieanweisung "kriechen während des Schlußtanzes immer mehr Attachés der verschiedenen europäischen und außereuropäischen Gesandtschaften herauf; dann folgen die Intendanten der großen deutschen Hoftheater; sie tanzen mit den Mädchen in ungeschickter Weise und werden dann vom Chor darüber verspottet".

Dem Operetten-Komponisten Offenbach scheint somit das zu gelingen, woran der Direktor der Opéra gescheitert war: die Rettung von Paris. Das Lustspiel endet mit der Selbstverbrennung von Victor Hugo. Wagner wollte mit seinem Stück, das wahrscheinlich nie aufgeführt wurde, vor der Gefahr einer kulturellen Kapitulation warnen, welche den militärischen Sieg über Frankreich, den Wagner wenig später begrüßt und mit einem "Kaisermarsch" gefeiert hat, im letzten Moment gefährdet hätte.